Uebersicht

Das Fegefeuer.

Einunddreißigster Gesang.

1 "Du, jenseits dort am heil'gen Strom," so kehrte  1
  Sie jetzt der Rede Spitze gegen mich,
  Nachdem die Schneide schon mich hart versehrte,
4 Fortfahrend ohne Säumen: "Sprich, o sprich,
  Ist dieses wahr? erkennst du deine Fehle?  5
  Auf solche Klage ziemt die Beichte sich."
7 Die Stimme regte sich, doch in der Kehle
  Erstarb das Wort; denn statt gehoffter Huld
  Verwirrte finstre Strenge meine Seele.
10 Nur wenig hatte sie mit mir Geduld:
  "Was sinnst du? sprich! Noch tilgten nicht die Wogen
  Der Lethe die Erinn'rung deiner Schuld."
13 Furcht und Verwirrung, sich vermischend, zogen
  Ein Ja aus meinem Mund, das zwar erblickt
  Vom Auge ward, allein dem Ohr entzogen.
16 Gleichwie, zu scharf gespannt, die Armbrust knickt,
  Und, wenn sich Sehn' und Bogen überschlagen,
  Den Pfeil mit mindrer Kraft zum Ziele schickt,
19 So brach, zu schwach, so schwere Last zu tragen
  Ich jetzt in Seufzer aus und Thränenflut,
  Und ließ den Ton sich nicht ins Freie wagen.
22 Drum sie zu mir: "In meiner Wünsche Glut,  22
  Die einst dich jenes Gut zu lieben führte,
  Das unserm Wunsch entrückt all' andres Gut,
25 Welch eine Kette war's, die dich umschnürte,
  Daß auf den Fortschritt, mit verzagtem Sinn,
  Die Hoffnung abzulegen dir gebührte?
28 Und welche Förd'rung, welcherlei Gewinn,
  Die lockend dir von Andrer Stirne lachten?
  Was führte dich zu ihrem Wege hin?
31 Nach einem tiefen, bittern Seufzer machten
  Sich Töne mühsam frei aus meiner Brust,
  Die kaum als Wort hervor die Lippen brachten.
34 ""Die Gegenwart mit ihrer falschen Lust,""
  So weint' ich, ""hat, als eure Blick' entschwanden,
  Rückwärts zu wenden meinen Schritt gewußt.""
37 "Verschwiegst, verneintest du, was du gestanden?"
  Sprach Sie, nicht minder wär's dem Richter kund,
  Vor dessen Blick die Lüge nie bestanden.
40 Doch wenn man sie verklagt mit eignem Mund,  40
  So wird hier abgestumpft das Schwert der Rache,
  Und Gnade macht des Sünders Herz gesund.
43 Drum, daß dein Wahn dich mehr erröthen mache,
  Und daß dein Herz zu jeder andern Zeit  44
  Die Lockung der Sirenen kühn verlache,
46 Laß ab von Weinen jetzt und Traurigkeit;
  Vernimm vielmehr, welch andern Weg zu wallen
  Dir ziemend war, als mich der Tod befreit.
49 Nichts ließ Natur und Kunst dir je gefallen,
  Wie jenen Leib, in dem ich dort erschien,
  Deß schöne Glieder jetzt in Staub zerfallen.
52 Und sahest du die höchste Wonn' entfliehn
  Bei meinem Tod, was konnte dich besiegen?
  Welch ird'sche Lust dich fürder an sich ziehn?
55 Beim Reiz der Dinge, die das Herz betriegen,
  Bei ihrem ersten Pfeil, war's ziemend, mir,
  Die ich mein Sein verwandelt, nachzufliegen,
58 Nicht niederziehn sollt' er die Schwingen dir,
  Nicht harren solltest du der andern Pfeile,
  Des Mägdleins nicht, noch andrer eitlen Zier.  60
61 Der junge Vogel harrt in träger Weile
  Des zweiten Pfeils, doch der beschwingte flieht
  Und schützt vor Netz und Pfeilen sich durch Eile."
64 Gleichwie ein Knabe schweigend niedersieht,
  Wenn Vorwurf und Bewußtsein ihn verstören,
  Und Reue sein Gesicht zur Erde zieht;
67 So stand ich dort. "Betrübt dich schon das Hören,"
  Sie sprach's "so sei emporgewandt dein Bart;  68
  Das Schauen wird noch deinen Schmerz vermehren."
70 In ihrem Widerstande minder hart,
  Läßt ihrem Grund die Eiche sich entreißen,
  Wenn sie von Nordsturms Macht durchschüttelt ward,  73
73 Als ich das Kinn erhob, da sie's geheißen.
  Auch fühlt' ich, da sie Bart für Antlitz sprach,
  Des Wortes Gift an meinem Herzen reißen.
76 Das Antlitz hob ich zögernd und gemach,
  Und sieh, die schönen englischen Gestalten,
  Sie ließen jetzt im Blumenstreuen nach.
79 Mein Blick, kaum fähig noch, ein Bild zu halten,
  Erschaute sie, dem Greifen zugewandt,
  In dem, dem Einen, zwei Naturen walten.
82 Sie schien verschleiert, jenseits dort am Strand,
  Das, was sie einst war, jetzt zu überwinden,
  Wie sie vordem die Andern überwand.
85 Wie mußt' ich da der Reue Schmerz empfinden!
  Wie, was mich von ihr abgewandt, die Lust  86
  Der eiteln Welt jetzt hassenswürdig finden!
88 So nagte Selbstbewußtsein meine Brust,
  Daß ich hinsank - mit welchem inn'ren Beben,
  Ihr, die es mir erregt, ihr ist's bewußt.
91 Als äuß're Kraft das Herz mir neu gegeben,  91
  Sprach über mir Sie, die mir erst allein
  Erschienen war: "Mich fass', um dich zu heben!
94 Sie zog mich bis zum Hals den Fluß hinein,
  Glitt, wie ein Webschiff, ohne sich zu senken,
Auf seiner Fläch' und zog mich hinterdrein,
97 Um mich zum fels'gen Ufer hinzulenken.
  Dort klang's "Entsünd'ge mich!" so süß - ich kann  98
  Es nicht beschreiben, ja nicht wieder denken.
100 Die schöne Frau erschloß die Arme dann,
Umschlang mein Haupt und taucht' es in die Wogen,
Drob ich vom Wasser trank, das mich umrann.
103 Drauf, als sie mich gebadet vorgezogen,
  Bot sie zum Tanze mich den schönen Vier,  104
Die hold um meinen Hals die Arme bogen.
106 "Wir sind am Himmel Sterne, Nymphen hier.
Und als zur Welt Beatrix kam, so gingen
Als ihre Dienerinnen wir mit ihr.  107
109 Wir werden dich ihr vor die Augen bringen;
Dir schärfen dann, fürs holde Licht darin
Den Blick die Drei, die schauend tiefer dringen."
112 Sie sangen diese Worte zum Beginn,
Worauf sie mich zur Brust des Greifen brachten,  113
Dort wandte sie nach uns das Antlitz hin.
115 Sie sprachen dann: "Hier darfst du frei betrachten,
Wir stellten dich vor der Smaragden Licht,
Woraus dich wund der Liebe Pfeile machten."
118 Mir weckt' ein glühend Sehnen ihr Gesicht,
Und band an ihrer Augen Glanz die Meinen;
Die Ihren wichen von dem Greifen nicht.  120
121 Und drinnen sah ich den zwiefachen Einen,  121
Gleichwie die Sonn' im Spiegel, schimmernd klar,
Als diesen bald, als Jenen bald erscheinen.
124 Nun denke, Leser, selbst, wie wunderbar,
Das Abbild, sich verwandelnd, zu erblicken,
Obwohl das Urbild stets dasselbe war.
127 Indeß die Seel' in Staunen und Entzücken
Die Speise kostete, die größern Drang
Nach sich erweckt, je mehr wir uns erquicken,
130 Da sah ich jene Drei vom höchsten Rang,
Dies zeigte die Geberd', uns nahe kommen,
Den Engeltanz begleitend mit Gesang.
133 "Beatrix, laß den Blick, den heil'gen, frommen,"
  So sangen sie, "auf deinen Treuen sehn,
  Der dich zu schau'n so hoch emporgeklommen.
136 Enthüll' aus Gnad' ihm deinen Mund, wir flehn,
  Die zweite Schönheit, die du noch verborgen,  137
  O laß sie auf vor seinen Augen gehn!
139 O Glanz lebend'gen Lichts! o ew'ger Morgen!
  Wer trank so tief aus des Parnassus Flut,
  Wer ward so bleich in seinen Müh'n und Sorgen,
142 Daß er vermag mit freiem, kühnem Muth
  Sich deiner Schilderung zu unterfangen,
  Wenn du bei Himmels-Harmonien in Glut
145 Den unbewölkten Lüften aufgegangen?

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Zweiunddreißigster Gesang

Erläuterungen:

1 Beatrice wendet jetzt die Rede gerade an Dante, nachdem ihre Worte, obgleich sie nicht an ihn, sondern an die Engel gerichtet waren, ihn bereits hart getroffen hatten.

5 Dieses, was sie im vorigen Gesange über Dante zu den Engeln gesprochen.

22 Meine Wünsche (i miei desiri), dies kann gleichmäßig bedeuten, die Wünsche, die ich selbst in mir hegte und dir eingeflößt hatte - und der Wunsch, die Sehnsucht nach mir.

40 Im Original: doch wenn die Beschuldigung der Sünde aus der eigenen Wange hervorbricht, so wendet sich an unserm Hofe das Rad (der sich umdrehende Schleifstein) gegen die Schneide.

44 Man wird nicht vergessen, das der Dichter nur als Reisender hier ist, und ins Erdenleben zurückzukehren gedenkt. Beatrice ertheilt ihm daher diese Lehren, die er mit gefaßtem Geiste anhören soll, damit er sich nicht wieder von falschen Reizen verlocken lasse.

60 Welches Mägdlein hier gemeint ist, wissen die Commentatoren nicht anzugeben. Einige haben an des Dichters Frau gedacht. Aber die Liebe zu dieser scheint ihn nicht eben von der Erinnerung an Beatricen abgezogen zu haben. Andere haben an die Schöne gedacht, die ihm nach Beatricens Tode eine lebhafte Neigung einflößte. (S. Einleitung.)

68 Beatrice nennt, wie wir weiter unten erfahren, den Bart statt des Gesichts, um anzudeuten, daß der bärtige Mann nicht dem unbefiederten Vogel, sondern dem vollkommen beschwingten gleiche, und daß er daher bei dem ersten Pfeile der eitlen Lust hätte entfliehen sollen. - So hoch der Uebersetzer seinen Dichter ehrt, und so gern er auch diese Stelle als trefflich und sinnig in ihrer Art anerkennt, so thut es ihm doch leid, in jenem einen Worte mitten im heiligen Ernst einen nicht ganz leisen Anklang des Komischen zu finden.

73 Beatrice steht hoch über dem Dichter. Daher muß er, um zu ihr emporzublicken, das Gesicht, folglich auch das Kinn, nach oben richten. Die moralische Deutung ergiebt sich von selbst. Das der Schuldbewußte nur zögernd nach oben blickt, ist nicht minder wahr und bedeutend.

86 ff. Alles andere Schöne verschwindet, indem Beatrice auf den Greifen, auf Christus, blickt, und in diesem Blicke, wenn auch noch verschleiert, dem Dichter selbst in der höchsten Schönheit erscheint.

91 Als die geistige Kraft im Herzen die äußere, körperliche wieder belebt hat, sieht der Liegende über sich die aufrecht stehende, aber zu ihm sich herabbeugende Mathilde. (Vergl. Anm. zu Ges. 28 V. 40.) Eine schon völlig geläuterte Seele dient dem gebeugten Dichter als Führerin und Stütze, und hilft ihm in der Lethe die Erinnerung an seine Schuld abwaschen. Sie selbst, leicht und rein geistig, schwebt über dem Strome, in welchem die Erinnerung der Schuld versinkt. Wie tief und sinnig!

98 Ps. 51 V. 9: Entsündige mich mit Ysopen, daß ich rein werde.

104 Den vier weltlichen Tugenden wird der, dessen Gemüth nun rein, selbst von der Erinnerung der Schuld befreit ist, zuerst übergeben. Sie führen ihn hin zum Anblick des höheren Lichts, wo die drei höheren Tugenden erscheinen, um das Auge zu stärken, damit es jenes höhere Licht erst ertrage und dann erkenne.

107 Als Beatrix geboren wurde, dienten ihr die weltlichen Tugenden - als der Glaube in die Welt kam, waren diese seine Begleiterinnen und Dienerinnen. Denn das ist nicht der rechte Glaube, der sich nicht auch in weltlicher Tugend offenbart.

113 Also an die Brust Christi selbst bringen die weltlichen Tugenden den Dichter. - Beatrice, welche nur auf den Greifen sah, mußte nach dem Dichter gewandt stehen, da dieser vor der Brust des Greifen stand.

120 Warum Beatrice, da ihr Freund nun jeder Schuld entladen ist, nicht auf ihn, sondern auf den Erlöser blickt, wird sich leicht erklären lassen.

121 Im Auge Beatricens, das auf dem Greifen ruht, sieht der Dichter, obwohl das, was ihre Augen betrachten, stets dasselbe bleibt, doch bald die menschliche, bald die göttliche Natur sich abspiegeln, d. h. der Erlöser, stets derselbe, erscheint uns im Glauben bald als Mensch, bald als Gott. Als er diese Erscheinung anstaunt, kommen die drei geistlichen Tugenden ihm zu Hülfe und bitten Beatricen, daß sie nun auf den Freund selbst ihren Blick richten und sich ihm entschleiern möge.

137 Beatricens ganze Gestalt war von dem Blumenregen, der aus den Händen der Engel auf sie niederströmte, dem Dichter verborgen worden. Dieser Regen hat (V. 78) aufgehört. Aber noch umwallt ihr Haupt der Schleier, der, wenn schon der Glanz ihres Auges ihn durchdringt, doch noch am freien Anschauen ihrer Züge hindert. Auch dieser Schleier hebt sich auf die Bitte der drei hohen Frauen. Wie er sich hebt? Was entschleiert wird? dies beschreibt der Dichter, dem nichts Darstellbares zu schwierig ist, am würdigsten, indem er bekennt, daß er dazu nicht fähig sei.