Uebersicht  

Das Fegefeuer.

Fünfundzwanzigster Gesang.

1 Die Stund' erheischte rasches Steigen schon,  1
  Nachdem hier Sol bereits den Mittagsbogen
  Dem Stier geräumt, dort Nacht dem Scorpion.
4 Drum, wie ein Mann, der, von nichts angezogen,
  Was sich auch zeige, seines Weges zieht,
  Vom Drang der Noth zu größter Eil' bewogen,
7 So drangen wir ins höhere Gebiet,
  Durch eine Stiege, die und so beschränkte,
  Daß uns die Enge von einander schied.  9
10 Und wie ein Störchlein, das die Flügel schwenkte,  10
  Aus Lust zum Flug, dann aber, sonder Muth,
  Vom Neste fortzuziehn, sie wieder senkte,
13 So ich, bald lodernd, bald verlöscht die Glut
  Der Fragelust, das Antlitz also zeigend,
  Wie der, der sich zum Sprechen anschickt, thut.
16 Da sprach mein Herr, obwohl voll Eifer steigend:
  "Laßt nicht der Rede Pfeil unabgeschnellt,  17
  Die Sehne nur bis hin zum Drücker beugend."
19 Worauf ich, sicher durch dies Wort gestellt,
  Den Mund erschloß: ""Wie wird man hier so mager,
  Hier, wo kein Leib ist, welchen Speis' erhält?""
22 Drauf Er: "Gedächtest du an Meleager,  22
  Der eben, wie verzehrt ein Holzbrand ward,
  Sich abgezehrt, du wärst kein solcher Frager.
25 Und dächtest du, wie gleich an Mien' und Art
  Sich euer Antlitz regt in Spiegelbildern,
  Dann schiene lind und weich dir, was jetzt hart.  27
28 Allein um Alles dir nach Wunsch zu schildern,
  Sieh hier den Statius, welcher dir verspricht,
  Weil ich ihn bitte, deinen Durst zu mildern."
31 "Entwickl' ich ihm das göttliche Gericht,"  31
  Sprach Statius drauf, "hier, wo du gegenwärtig,
  So sei's verziehn - du willst, drum weigr' ich nicht."
34 Und dann: "Jetzt sei dein Geist bereit und fertig
  Für meine Rede, Sohn - dann sei des Wie?
  Das du erfragt'st, in vollem Licht gewärtig.
37 Das reinste Blut, das von den Adern nie  37ff.
  Getrunken wird, vergleichbar einer Speise,
  Die über den Bedarf Natur verlieh,
40 Empfängt im Herzen wunderbarer Weise
  Die Bildungskraft für menschliche Gestalt,
  Geht dann mit dieser durch der Adern Kreise,
43 Noch mehr verkocht, zu einem Aufenthalt,
  Den man nicht nennt, von wo's zu anderm Blute
  In ein natürlich Becken überwallt.
46 Daß beides zum Gebild zusammenfluthe,  46
  Ist leidend dies, und thätig das, vom Ort,
  In dem die hohe Bildungskraft beruhte.
49 Drin angelangt, beginnt's sein Wirken dort;
  Geronnen erst, erzeugt es junges Leben,
  Und schreitet in des Stoffs Verdichtung fort.
52 Die Seel' entsteht aus thät'ger Kräfte Streben,  52ff.
  Wie die der Pflanze, die schon stille steht,
  Wenn jene kaum beginnt, sich zu erheben.
55 Bewegung zeigt sich dann, Gefühl entsteht,
  Wie in dem Schwamm des Meers, und zu entfalten  56
  Beginnt die thät'ge Kraft, was sie gesä't.
58 Wie nun des Herzens Zeugungskräfte walten,
  Wird ausgedehnt die Frucht, geschwellt, entwirrt,  59
  So, daß die Glieder sämmtlich sich gestalten.
61 Doch, Sohn, wie nun das Thier zum Menschen wird,
  Noch siehst du's nicht, und dies ist eine Lehre,
  Worin ein Weiserer, als du, geirrt.  63
64 Er war der Meinung, von der Seele wäre
  Gesondert die Vernunft, weil kein Organ
  Die Aeußerung der letztern uns erkläre.
67 Jetzt sei dein Herz der Wahrheit aufgethan,
  Damit dein Geist, was folgen wird, bemerke!
  Wenn Bildung das Gehirn der Frucht empfahn,
70 Kehrt, froh ob der Natur kunstvollem Werke,
  Zu ihr der Schöpfer sich, und haucht den Geist,
  Den neuen Geist ihr ein, von solcher Stärke,
73 Daß er, was thätig dort ist, an sich reißt,
  Und mit ihm sich vereint zu Einer Seele,
  Die lebt und fühlt und in sich wogt und kreist.
76 Und daß dir's nicht an hellerm Lichte fehle,
  So denke nur, wie sich zum edlen Wein
  Die Sonnenglut dem Rebensaft vermähle.
79 Gebricht es dann der Lachesis an Lein,  79 ff.
  Dann trägt sie mit sich aus des Leibes Hülle
  Des Menschlichen und Göttlichen Verein;
82 Die andern Kräfte, sämmtlich stumm und stille,
  Doch schärfer als vorher, in Macht und That,
  Erinnerung, Verstandeskraft und Wille.
85 Und ohne Säumen fällt sie am Gestad,
  An dem, an jenem, wunderbarlich nieder,
  Und hier erkennt sie erst den weitern Pfad.
88 Kaum ist sie nun auf sicherm Orte wieder,
  Da strahlt die Bildungskraft rings um sie her,
  So hell wie einst beim Leben ihrer Glieder.
91 Und wie die Luft, vom Regen feucht und schwer,
  Sich glänzend schmückt mit bunten Farbenbogen
  Im Wiederglanz vom Sonnen-Feuermeer;
94 So jetzt die Lüfte, so die Seel' umwogen,
  Worein die Bildungskraft ein Bildniß prägt,
Sobald die Seel' an jenen Strand gezogen.
97 Und gleich der Flamme, die sich nachbewegt,
  Wo irgend hin des Feuers Pfade gehen,
  So folgt die Form, wohin der Geist sie trägt.
100 Sieh daher die Erscheinung dann entstehen,
Die Schatten heißt: so bildet sich in ihr
Auch jegliches Gefühl bis auf das Sehen.  102
103 Und daher sprechen, daher lachen wir,
  Und daher weinen wir die bittern Zähren
Und seufzen laut auf unserm Berge hier.
106 Der Schatten bildet sich, je wie Begehren
Und Leidenschaft uns reizt und Lust und Gram.
Dies mag dir, was du angestaunt, erklären.
109 Und schon als ich zur letzten Marter kam,  109
Indem wir, rechts gewandt, die Schlucht verließen,  
Ward ich auf das, was dort war, aufmerksam.
112 Den Felsen sah ich Flammen vorwärts schießen,  112
Der Vorsprung aber haucht' empor zur Wand  
Windstöße, die zurück die Flammen stießen.
115 Wir mußten einzeln gehn am freien Rand115
Und ängstlich hört' ich hier die Flamme schwirren
Indeß sich dort ein tiefer Abgrund fand.
118 Mein Führer sprach: "Hier laß dich nichts verwirren,
Und halte straff der schnellen Augen Zaum,
Denn leicht ist's hier, mit einem Tritt zu irren."
121 Gott höchster Gnade! hört' ich's aus dem Raum,  121
Den jene große Glut erfüllte, singen,
Und hielt den Blick an meinem Wege kaum.  123
124 Ich sah dort Geister, die durch's Feuer gingen,
Und sah auf meinen bald, bald ihren Gang,
Und ließ den Blick von hier nach dorten springen.
127 Ich weiß von keinem Mann - dies Wort erklang  127
Mit lautem Ruf, als jenes Lied verklungen,
Und neu begannen sie's mit leisem Sang,
130 Und riefen wieder, als sie's ausgesungen:
"Diana blieb im Hain, und jagt' ergrimmt  131
Kalisto fort, die Venus' Gift durchdrungen."
133 Dann ward die Hymne wieder angestimmt,
Dann riefen sie von keuschen Frau'n und Gatten,
Die lebten, wie's zu Eh' und Tugend stimmt.
136 Und dies nur thun sie, ohne zu ermatten,
Wie's scheint, so lang die Flamme sie umfließt,
Bis solche Pfleg' und Arzenei den Schatten
139 Zuletzt' die Wund' auf ewig wieder schließt.

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Sechsundzwanzigster Gesang

Erläuterungen:

1 Nach der hier bezeichneten Stellung der Sternbilder war die zweite Stunde des Nachmittags auf dem Fegefeuerberge vorüber.

9 Die Reisenden konnten, wegen des engen Weges, nicht neben einander, sondern mußten hinter einander gehen.

10 Dante ist aus Ehrfurcht unentschlossen, ob er fragen dürfe oder nicht. Diese Ungewißheit stellt er in dem obigen Gleichnisse meisterhaft dar.

17 Das Original sagt wörtlich: Schnelle den Bogen der Rede ab, welchen du bis zum Eisen gezogen hast. Hiermit ist nun deutlich das Bild eines bis zum Abschießen angespannten Bogens gezeichnet. Die Commentatoren, die auf geringe Dinge oft großen Werth legen, sind aber zweifelhaft darüber, ob der Dichter eine Armbrust oder einen einfachen Bogen gemeint, und ob er im letztern Falle habe ausdrücken wollen: der Bogen sei so gespannt, daß die beiden mit Eisen beschlagenen Enden sich berühren - oder so, daß die eiserne Spitze des Pfeils mit dem Bogen selbst in Berührung komme, oder endlich, ob von einer Armbrust die Rede sei, deren Sehne immer nur bis zu dem eisernen Drücker gezogen werde. Die hierauf gewandte Mühe dient nur zum Beweise, in welchem Sinne die meisten Ausleger gearbeitet haben.

22 Die Parzen hatten bei Meleagers Geburt bestimmt, daß er so lange leben solle, als ein gewisses Holzscheit nicht von der Flamme werde verzehrt werden. Dieses Scheit verwahrte seine Mutter Althäa gleich dem köstlichsten Kleinode. Als aber Meleager bei der kalydonischen Jagd die Brüder seiner Mutter tödtete, warf diese das verhängnißvolle Holz in die Flammen, und wie das Holz verbrannte, wurde er von inneren Gluten verzehrt. Durch dies Beispiel belehrt Virgil den Dante, daß, wie Meleager durch das Walten höherer Mächte ohne körperliche Einwirkung sich verzehrt habe, auch die Schatten hier, obwohl sie der Nahrung nicht mehr bedürfen, sich verzehren können, indem der Scheinleib, dessen Bildung beschrieben wird, nur, wie das vom Spiegel zurückgeworfene Bild, die Seele mit ihren Leiden darstelle.

27 Dann würdest du leicht finden, was dir jetzt schwer scheint.

31 Das göttliche Gericht - im Original: die göttliche Rache, weil die Strafe der Sünden die Seelen trifft, deren Entstehung dieser Gesang schildert.

37 ff. Die männliche Zeugungskraft wird, nach der Theorie des Dichters, im Herzen dem reinsten vollkommensten Blute mitgetheilt, dessen der Körper nicht, wie des andern Bluts, zu seiner eigenen Erhaltung bedarf, das vielmehr unvermischt mit dem andern, durch den weitern Kreislauf noch mehr verkocht, (digesto), durch die Adern den dazu bestimmten Behältern, welche die Scham zu nennen verbietet, zugeführt wird.

46 Thätig wird das männliche Blut durch die im Herzen empfangene Bildungskraft.

52 ff. Die Seele der Pflanze, ihre innere bewegende, belebende Kraft, endet, wenn der Stoff ausgebildet ist. Aber dann beginnt die Seele des lebenden Wesens erst kräftiger zu wirken.

56 Das erste animalische Leben des Embryo ist wie das der Thierpflanze.

59 Das reinste Blut, welches V. 37 bezeichet ist, hat keinen andern Zweck, als die im Herzen wohnende Bildungskraft zu empfangen, weiter zu befördern und zu entwickeln.

63 Ein Weiserer als du, Averrhoes, der Commentator des Aristoteles, welcher die fühlende Seele, die in Folge körperlicher Einwirkung ihre Kraft äußert und zu dieser Aeußerung körperlicher Organe bedarf, von der getrennt glaubt, die von dieser Einwirkung unabhängig ist, und der körperlichen Organe zur Erkenntniß dieser Kraftäußerung in sich selbst nicht bedarf. Nach der Theorie des Dichters empfängt die eine Seele ihre höheren Kräfte durch den Hauch Gottes, welcher, sobald das Gehirn organisirt ist, im Stoffe den Geist zeugt, wie die Sonnenglut im Weine.

79 ff. Nach dem körperlichen Tode schweigen die körperlichen Kräfte. Aber die der Seele empfangen eine lebendigere Wirksamkeit. Dorthin enteilt sie, wo ihr kund wird, ob sie zur Verdammniß oder zur Seligkeit bestimmt ist. Hier nun umgiebt sie, durch die Bildungskraft, aus welcher das erste Sein entstand, jener Scheinleib, den wir an Dantes Schatten wahrnehmen.
        Also sind es, wie schon wiederholt bemerkt ist, nicht körperliche Leiden, die wir an den Verdammten, oder auch an denen, die sich läutern, wahrnehmen, sondern Leiden der Seele, die sich in diesem Scheinleibe abspiegeln und dem Laster, von welchem man sich hier läutert, und dem durch dasselbe erzeugten Seelenzustande entsprechen.

102 Bis auf das Sehen, im Orig. insino a la veduta. Veduta bedeutet die Sehkraft und den Anblick. Die Stelle kann daher ausdrücken: Jedes Gefühl, jeder Sinn wird ausgebildet, auch der Sinn des Gesichts, oder auch: durch diese Bildung wird der Schatten selbst sichtbar.

109 Die letzte Marter, der siebente und letzte Kreis der Büßenden.

112 Im siebenten Kreise läutern sich diejenigen, welche der Wollust und, wie wir im folgenden Gesange sehen, hauptsächlich der unnatürlichen Wollust ergeben waren, in Flammen, welche den Vorsprung ausfüllen. Aus dem Vorsprunge des Berges haucht ein Wind, der die Flammen emportreibt, so daß sie noch einen Pfad am aüßern Rande für die Dichter frei lassen. Denken wir uns unter diesen Flammen die wahre, echte Liebe, die zum ersten Gute (vergl. Ges. 17 V. 91 ff.), welche, wenn sie zuerst in einem der falschen Liebe hingegebenen Gemüthe entsteht, dasselbe so lange, bis es die letztere abgelegt hat, peinigen und nagen muß. Aber eben diese echte Liebe reinigt am sichersten von der falschen, da beide neben einander nicht bestehen können. Daß die Flamme durch den Wind von unten nach oben getrieben wird, dürfte diese Deutung noch mehr rechtfertigen.

115 Der schmale Pfad zwischen dem Feuer und dem Abgrunde wird nach obiger Deutung ebenfalls leicht zu erklären sein.

121 Summa Deus clementiae, Anfang einer Hymne, welche die Kirche am Sonntagmorgen singt, um Gott zu bitten, daß er jede sündliche Glut unterdrücken und die Herzen mit seinem heiligen Feuer erwärmen möge.

123 Im Orig. Che di volger mi fe caler non meno - wörtlich: welche (die Glut) machte, daß ich mir nicht minder angelegen sein ließ, mich zu wenden. Der Weg war nach V. 115-120 schwierig und gefährlich, ein Fehltritt leicht. Dennoch reizte den Dichter der Anblick der Flamme so, daß er sich nicht halten konnte, statt auf den Weg zu sehen, sich nach ihr hinzuwenden. Nach V. 124 theilt er dann seinen Blick zwischen dem Wege und der Flamme mit den in solcher befindlichen Geistern. - Ein neuer Uebersetzer hat zwar im beigedruckten Original richtig caler aufgenommen, verwechselt es aber mit cader, und übersetzt, auch nach dieser Verwechslung nicht richtig: Ihm zugewandt ließ er mich doch nicht fallen. Dazu wird die Bemerkung gemacht: Dies ist sehr bedeutend. Das Anschauen der göttlichen Flamme läßt ihn nicht sinken. - Eine Warnung, nicht tiefere Tiefen zu suchen, als das ohnehin sehr tiefe Original sie darbietet - und ein Beweis, daß manche anscheinend ganz neue Bemerkung nur im Mißverstehen der klaren Worte ihren Grund hat.

127 Ich weiß von keinem Mann, Worte Maria's, als der Engel ihr den Sohn angekündigt. (Luc. 1, 34.)

131 Diana, unmittelbar hinter der Mutter Gottes, als zweites Beispiel der Keuschheit; Diana, welche, bemerkend, daß die Nymphe Kalisto dieser Tugend untreu geworden, sie aus ihrem Hain verstieß.