Das Fegefeuer. |
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Zweiundzwanzigster Gesang. |
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1 | Schon hinter uns geblieben war der Engel, 1 |
Der unsern Schritt zum sechsten Kreis gekehrt, | |
Und mir getilgt ein Zeichen meiner Mängel. | |
4 | Sie, deren Wunsch Gerechtigkeit begehrt, 4 |
Sie riefen: "Heil dem Dürstenden!" und schwiegen, 5 | |
Und ohne Weit'res war ihr Sinn erklärt. | |
7 | Ich, leichter, als auf andern Felsenstiegen, 7 |
Ging aufwärts, den behenden Geistern nach, | |
Und sonder Mühe ward der Kreis erstiegen. | |
10 | "An Lieb', entzündet von der Tugend," sprach 10 |
Mein Meister nun, "ist andre stets entglommen, | |
Wenn sichtbar nun empor die Flamme brach. | |
13 | Darum, seit Juvenal hinabgekommen |
Zum Höllenvorhof, und mit uns vereint, | |
Von dem ich, wie du mich geliebt, vernommen, | |
16 | War ich in Liebe dir so wohl gemeint, |
Wie wir sie selten Nie-Geseh'nen weihen, | |
So, daß nur kurz mir diese Stiege scheint. | |
19 | Doch sprich, und wolle mir als Freund verzeihen. |
Lös't mir zu große Sicherheit den Zaum, | |
Und wolle Kunde mir als Freund verleihen: | |
22 | Wie fand der Geiz doch - ich begreif' es kaum - |
Bei solcher Weisheit, wie dein eifrig Streben | |
Errungen hat, in deinem Busen Raum?" | |
25 | Hier sah ich Lächeln Jenes Mund umschweben, |
Dann sprach er: Jedes Wort aus deinem Mund, | |
Zeugt's nur von Liebe, muß mir Freude geben, | |
28 | Oft werden uns von außen Dinge kund, |
Die falsche Zweifel in der Seel' erregen, | |
Weil tief verborgen ist ihr wahrer Grund, | |
31 | Du scheinst - die Frage zeigt's - den Wahn zu hegen, |
Daß mich der Geiz auf Erden einst geplagt, | |
Vielleicht weil ich in diesem Kreis gelegen. | |
34 | Jetzt wisse, daß ich ihm zu sehr entsagt, 34 |
Und dieses Unmaß hab' ich hier in Schlingen | |
So viele tausend Monden lang beklagt. | |
37 | Dort unten müßt' ich, Steine wälzend, ringen, |
Hätt' ich dein zürnend Warnen nicht gehört: 38 | |
Zu was kannst du die Menschenbrust nicht zwingen, | |
40 | Verfluchter Durst nach Gold, der uns bethört! - |
Die erste Mahnung hört' ich dich verkünden, | |
Und ward aus eitlen Träumen aufgestört. | |
43 | Daß nur zu offen meine Hände stünden, |
Dies ward mir nun in meinem Geiste klar, | |
Mit Reu' ob dieser und der andern Sünden. | |
46 | Wie Viel' erstehn einst mit verschnittnem Haar, 46 |
Weil bis zum Tod sie nicht erkannt, daß Sühne | |
Durch Reu' auch diesem Fehler nöthig war. | |
49 | Wisse, die Schuld, die auf des Lebens Bühne |
Sich einer andern grad' entgegensezt, | |
Verliert zugleich mit ihr hier ihre Grüne. | |
52 | Drum sahst du mich bei jenen Schaaren jetzt |
Der Reuigen, die einst der Geiz bezwungen, | |
So hat das Gegentheil mich herversetzt." | |
55 | "Zur Zeit, da du der Waffen Graus gesungen, 55 |
Die Iokasten Gram zu Gram gefügt," | |
Sprach Jener, dem das Hirtenlied gelungen, | |
58 | "War, wenn, was Klio aus dir singt, nicht trügt, |
Nicht durch den Glauben noch dein Herz gelichtet, | |
Bei dessen Mangel keine Tugend gnügt. | |
61 | Nun, welche Sonne hat die Nacht vernichtet, |
Welch irdisch Licht, daß du an deinem Kahn | |
Die Segel dann, dem Fischer nach, gerichtet?" | |
64 | Und Er: "Du zeigtest mir zuerst die Bahn |
Zu dem Parnaß und seinen süßen Quellen, | |
Und warst mein erstes Licht, um Gott zu nahn. | |
67 | Dem, der bei Nacht geht, warst du gleich zu stellen 67 |
Dem seine Leuchte selbst kein Licht verleiht, | |
Um hinter ihm die Straße zu erhellen, | |
70 | Indem du sprachst: Erneuert wird die Zeit, |
Ich seh' ein neu Geschlecht vom Himmel steigen | |
Und Ordnung herrschen und Gerechtigkeit. | |
73 | Durch dich ward mir der Ruhm des Dichters eigen, |
Durch dich ward ich den Christen beigesellt; | |
Wie? soll sich dir in klarem Bilde zeigen. | |
76 | Von wahrem Glauben schwanger war die Welt |
Schon überall; es streuten diesen Samen | |
Die Boten ew'gen Reichs ins weite Feld. | |
79 | Mit deinem jetzt berührten Worte kamen |
Die neuen Pred'ger sämmtlich überein. | |
Drum folgt' ich denen, die ihr Wort vernahmen. | |
82 | Sie schienen mir so heilig und so rein - |
Und als sie Domitian verfolgte, machten | |
Mich weinen ihre Klag' und ihre Pein | |
85 | Und ihnen beizustehn war all mein Trachten, |
Da mir so redlich ihre Sitt' erschien; | |
All andre Sekten mußt' ich drum verachten. | |
88 | Eh', dichtend, ich an Thebens Flüsse ziehn 88 |
Die Griechen ließ, hatt' ich die Tauf' empfangen, | |
Obwohl ich äußerlich als Heid' erschien | |
91 | Und ein versteckter Christ verblieb aus Bangen; |
Und ob der Lauheit hab' ich mehr als vier | |
Jahrhunderte den vierten Kreis umgangen. | |
94 | Sprich jetzo du, der du den Schleier mir |
Gehoben hast vom Heile, das ich preise, | |
Denn Zeit genug beim Steigen haben wir: | |
97 | Wo Freund Terenz, wo Varro ist, der Weise, |
Cäcilius, Plautus? - sprich, ich bitte sehr, | |
Ob sie verdammt sind und in welchem Kreise?" | |
100 | "Sie, ich, und Mancher sonst," erwiedert' Er, 100 |
"Wir sind beim Griechen, jenem blinden Alten, | |
Den Musenmilch getränkt, wie Keinen mehr, | |
103 | Im ersten Kreis der blinden Haft enthalten; |
Oft sprachen wir von jenem Berge schon, | |
Wo unsre süßen Nährerinnen walten. 105 | |
106 | Dort ist Euripides, Anakreon |
Mit vielen Griechen, die der Lorbeer krönte, | |
Mit dem Simonides und Agathon. | |
109 | Auch Sie, von welchen einst dein Lied ertönte 109 ff. |
Antigone, Ismene, so gebeugt, | |
Wie einst, da sie um den Verlobten stöhnte. | |
112 | Auch Jene, die das Kind, das sie gesäugt, |
Rückkehrend von Langia, todt gefunden, | |
Und Daphne, von Tiresias erzeugt." | |
115 | Die Dichter schwiegen beide jetzt und stunden |
Vom Steigen frei und von der Felsenwand, 116 | |
Und sahn umher, das Weitre zu erkunden. | |
118 | Die fünfte Dienerin des Tages stand 118 |
Am Wagen schon, um seinen Lauf zu leiten, | |
Der Deichsel Flammenspitz' emporgewandt. | |
121 | "Wir kehren, denk' ich, unsre rechten Seiten," |
Begann mein Herr, "zum freien Rande hin, | |
Um, wie wir pflegen, um den Berg zu schreiten. | |
124 | So ward Gewohnheit unsre Führerin, |
Auch Statius winkte Beifall dem Genossen, | |
Drum gingen wir mit sorgenfreiem Sinn, | |
127 | Sie mir voraus, ich einsam, unverdrossen, |
Ging hinterdrein, den Reden horchend, fort, | |
Die meinem Geist der Dichtung Tief' erschlossen. | |
130 | Doch machte bald der Dichter süßes Wort 130 |
Ein Baum mit würzig duft'gen Aepfeln schweigen. | |
Inmitten unsers Weges stand er dort; | |
133 | Und wie die Tann' aufwärts, von Zweig zu Zweigen, |
Sich enger abstuft, so von Sproß zu Sproß | |
Er niederwärts, erschwerend das Ersteigen. | |
136 | Auf jener Seite, wo der Weg sich schloß, |
Fiel klares Naß vom hohen Felsensaume, | |
Das auf die Blätter sprühend sich ergoß. | |
139 | Da nahte sich das Dichterpaar dem Baume, |
Aus dessen Zweigen eine Stimm' erscholl: | |
"Die Speise hier wird theuer eurem Gaume. 141 | |
142 | Der Hochzeit nur, um ganz und ehrenvoll 142 |
Sie auszurichten, galt Maria's Sinnen, | |
Nicht ihrem Mund, der für euch sprechen soll. | |
145 | Nur Wasser tranken einst die Römerinnen; 145 |
Nicht Königskost hat Daniel gewollt, 146 | |
Um reichen Schatz der Weisheit zu gewinnen. | |
148 | Die Urzeit war so schön, wie lautres Gold, |
Als Eichen noch dem Hunger leckre Speisen, 148 | |
Und Nektar jeder Bach dem Durst gezollt. | |
151 | Heuschrecken hat und Honig einst zu speisen |
Der Täufer in der Wüste nicht verschmäht, | |
Und hoch und herrlich ist er drob zu preisen, | |
154 | Wie's offenbart im Evangelium steht." 154 |
Erläuterungen:
1 Die Erscheinung des Engels, der den Dichter in den anderen Kreisen empfangen und ihm eins der Zeichen der Sünde abgenommen hat, ist diesmal nicht erzählt worden. Wir sehen aber in den ersten drei Versen, daß sie wirklich stattgefunden hat. 4 Hier sind ohne Zweifel die hier sich reinigenden Seelen gemeint, deren Begehren nach Gerechtigkeit Ges. 21. V. 61 ff. näher bezeichnet ist. 5 Heil dem Dürstenden, Beziehung auf Matthäus 5 V. 6: Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit. - Hier beim Uebergange von der Buße der Geizigen zu der der Schwelger ist die Erinnerung an dieses Wort Christi ganz am rechten Orte. 7 Die Prophezeihung Virgils, daß ihm die Mühe werde zum Genusse werden, fährt fort sich zu erfüllen. 10 Wenn wir erfahren, daß ein Anderer uns wegen dessen, was gut in uns ist, liebt, so lieben wir ihn gewiß wieder. Deshalb liebt Virgil den Statius, seitdem er von der Liebe desselben zu ihm durch Juvenal unterrichtet ist. 34 Wie in der Hölle Geizige und Verschwender in einem Kreise bestraft werden, so reinigen sich beide auch im Fegefeuer an demselben Orte. Auch die Verschwender plagt der Durst nach Gold, das sie immer vermissen, weil sie es nicht zu erhalten verstehen, daher die Ges. 19 V. 118 ff. angegebene Buße auch zu ihrem Fehler im entsprechenden Verhältniß steht. 38 Statius verdankt den Worten Virgils: 46 S. Hölle Ges. 7 V. 46 und 56. 55 Hindeutend auf den thebanischen Krieg, in welchem Eteokles und Polynices, Söhne der Iocaste, wechselweis sich tödteten. 67 Virgil, selbst nicht gläubig, erweckte doch den Glauben in Statius durch folgende Verse, auf welche V. 70-72 sich bezogen ist: 88 Ehe ich die Thebais dichtete. 100 Bei Homer. (Vergl. Hölle Ges. 4 V. 88.) 105 Unsre süßen Nährerinnen, die Musen. 109 ff. In diesen Versen sind im Original mehr Personen der Thebais aufgeführt, als in der Uebersetzung haben wieder Platz finden können. 116 Die Dichter waren also durch den Felsenspalt, durch welchen der Weg zu dem höheren Kreise führt, bereits zu dem ebenen Vorsprung des Berges gelangt. 118 Die fünfte Dienerin des Tags, die fünfte Stunde vom Aufgange der Sonne an gerechnet. Es war also noch nicht Mittag und die Sonne stieg noch aufwärts. 130 In diesem Kreise läutern sich die Schwelger. Wir sehen sie im folgenden Gesange V. 22 ff. ganz abgemagert und entstellt. Wenn wir uns erinnern, daß die Gestalt und Geberde der Schatten ihren Seelenzustand andeutet (vergl. Anm. zur Hölle Ges. 3 V. 34), so wird es uns nicht schwer werden, die Lehre zu finden, daß die übermäßige Gier nach irdischer Nahrung die Seele in den kümmerlichsten Zustand versetzt und sie von dem Streben nach dem wahren und echten Genusse ableitet. Diesen wahren Genuß bietet der Baum, nach dessen würzigen Früchten die Büßenden hier vergeblich ringen, der von unten schwer zu ersteigen, von geringem Umfange ist, aber nach oben hin immer weiter sich ausbreitende Aeste zeigt, und dessen Laub und Frucht durch das ewig von oben herabkommende klare Naß erfrischt wird. Mehrfache allegorische, moralische und religiöse Deutungen dieses Baumes wird der Leser selbst leicht finden. 141 Die Speise hier etc., ihr werdet diese Speise, die der Baum zeigt, nicht erreichen können. 142 Der Dichter, immer neue Formen erfindend, läßt hier die Beispiele der der Schwelgerei entgegengesetzten Tugend aus dem Baume verkünden. Als erstes zeigt sich Maria, welche Christum auf der Hochzeit zu Kana nicht für sich selbst um Wein bat, sondern sagte: Sie haben keinen Wein. (Joh. 2 V. 3.) 145 Nach dem Zeugnisse des Valerius Maximus verschmähten die römischen Frauen, als noch gute Sitte in Rom herrschte, den Genuß des Weins gänzlich, um nicht in irgend eine Unanständigkeit zu verfallen. 146 Daniel, als Knabe vom Nebucadnezar mit anderen entführt, sollte mit seinen Genossen von des Königs Tafel essen und von seinem Weine trinken. Aber er verschmähte mit drei anderen diese Kost und diesen Trank, um sich nicht zu verunreinigen. "Aber der Gott dieser Vier gab ihnen Kunst und Verstand in allerlei Schrift und Weisheit. Daniel aber gab er Verstand in allen Gesichten und Träumen." (Dan. 1 V. 17.) 148 Das goldene Zeitalter, mit dem, was die Sage von der Tugend und Einfachheit erzählt, die in ihm herrschten. 154 Im Evangelium Marc. 1 V. 6. |