Uebersicht

Das Fegefeuer.

Neunzehnter Gesang.

1 Zur Stunde, da, vom Erdqualm überwunden,
  Oft vom Saturn, den Nachtfrost zu durchlau'n,
  Der Tagesglut die Kraft dahingeschwunden, 1-3
4 Wenn in dem Osten vor des Frühlings Grau'n
  Ihr größtes Glück die Geomanten sehen,
  Wo's kurze Zeit sich hält in nächt'gem Brau'n, 4-6
7 Sah ich ein Weib im Traume vor mir stehen,  7 ff.
  Kalkweiß, verstümmelt, stotternd, krumm gebückt,
  Und schielend sah ich sie die Augen drehen.
10 Ich schaut' auf sie - wie der, den Nachtfrost drückt,
  Gestärkt wird und belebt vom Blick der Sonnen,
  So wurde sie von meinem Blick durchzückt.
13 Schnell sprang das Band, das ihre Zung' umsponnen;
  Sie richtete sich auf; ein rother Schein,
  Färbt' ihr Gesicht, wie Hauch der Liebeswonnen.
16 Kaum fühlte sie die Zunge sich befrei'n,
  Als sie ein Lied begann, so holden Sanges,
  Daß ich auf nicht horcht' als auf sie allein.
19 "Ich, der Sirenen Süßeste," so klang es,
  "Ich bin's, durch die vom Weg der Schiffer schweift;
  Denn wer mich hört, ist voll des Wonnedranges.
22 Mir folgt' Ulyß, der lang umhergestreift,
  Und wie Entzücken ihn und Wollust kirren,
  Verläßt mich Keiner, der mich ganz begreift."
25 Noch hört' ich in der Luft die Töne schwirren,
  Sieh, da erschien ein heil'ges Weib, mir nah',
  Die Sängerin beschämend zu verwirren.
28 "Virgil! Virgil! sprich, wer ist diese da?"  28
  Sie rief's mit Streng', als sie dies Weib entdeckte,
  Indeß Er fest nur Ihr ins Auge sah.
31 Sie aber riß das Kleid, das Jene deckte,
  Ihr vorn entzwei, daß mir der Bauch erschien,
  Aus dem Gestank quoll, welcher mich erweckte.
34 Ich schlug die Augen auf und sah auf ihn.
  "Schon dreimal rief ich dich," begann der Weise.
  "Auf, laß uns jetzt zur Felsenöffnung ziehn."
37 Ich richtete mich auf, und alle Kreise
  Des heil'gen Bergs erfüllte Morgenpracht,
  Und leuchtet' hinter uns zu unsrer Reise.  39
40 Ich folgt' ihm nach, und neigte ganz erwacht
  Die Stirn, wie Einer, der in schwerem Sinnen  41
  Sich selbst zum halben Brückenbogen macht.
43 "Kommt, hier steigt auf!" So hört' ich's nun beginnen,
  Mit Tönen, wie sie nie im ird'schen Land
  So huldvoll und so süß das Herz gewinnen.
46 Die Flügel, wie des Schwanes, ausgespannt,
  Winkt' uns der Engel vor, und beide gingen
  Wir durch des Felsen enge Doppelwand.
49 Er weht' uns an mit den bewegten Schwingen,
  Und sprach: "Heil dem, der stark das Leid erträgt,
  Denn reichen Trost wird seine Seel' erringen."  49-51
52 "Was hast du, das dich immer noch erregt?
  Was sinkt verworren noch dein Blick zur Erden?"
  So sprach Virgil, als wir uns fortbewegt.
55 ""Ein neu Gesicht - noch seh' ich die Geberden"" -
  Versetzt' ich, ""macht mich so in Zweifeln gehn!
  Noch kann ich dieses Bilds nicht ledig werden.""
58 "Die alte Hexe - hast du sie gesehen58
  Ob der man dorten klagt, wohin wir reisen,"
  Sprach Er, "und wie man's macht ihr zu entgehen, -  60
61 Doch weiter jetzt. Schau auf! in mächt'gen Kreisen 61
  Wird dort im klaren himmlischen Gebiet
  Lockbilder dir der ew'ge König weisen!"
64 Wie erst der Falk auf seine Füße sieht,
  Doch dann nicht säumt, sich nach dem Ruf zu wenden,
  Sich streckt, und fliegt, wohin die Beut' ihn zieht;
67 So ich - so klomm ich zwischen Felsenwänden,
  So weit der Weg sich hebt im engen Schlund,
  Bis wo die Stiegen auf den Vorsprung enden.
70 Und als ich frei im fünften Kreise stund,
  Da lagen Leute, die sich weinend plagten,
  Das Auge ganz hinabgewandt, am Grund,
73 "Ach! meine Seele klebt am Staube!"
  Klagten sie All', und ihrer Seufzer laut Getön,  74
  Es ließ mich kaum vernehmen, was sie sagten.
76 "Ihr Gotterwählte, deren Angstgestöhn
  Gerechtigkeit und Hoffnung mild versüßen,
  O sprecht, wo ist die Stiege zu den Höh'n?"
79 "Kommt ihr gewiß, nicht liegend hier zu büßen,
  So nehmt nur links den Felsen euren Lauf,
  Dann liegt der Eingang bald vor euren Füßen."
82 So bat Virgil, und so versetzt es drauf
  Nicht weit von uns, und, schnell errathend, klärte
  Ich, was drin sonst verborgen war, mir auf.
85 Als ich den Blick nach dem des Führers kehrte,
  Stimmt' er mit frohem Winke gern mir bei,
  Ich möge thun, was mein Gesicht begehrte.
88 Kaum stand mir nun nach Wunsch zu handeln frei,
  So sucht' ich ihn, deß Wort den Sinn verborgen:
  Er wisse nicht, daß ich noch lebend sei.
91 Und sprach: ""O Geist, für den des Heiles Morgen
  Durch Thränen früher tagt, o laß für mich
  Ein wenig ab von deinen größern Sorgen.
94 Wer warst du, und was kehrt dein Rücken sich
  Empor? und dort, woher ich, noch im Leben,
Gekommen bin, dort bitt' ich dann für dich.""
97 "Wie wir hier liegen für verkehrtes Streben,
  Bald hörst du's," sprach er, "doch vernimm zuvor:
  Mir waren Petri Schlüssel übergeben.
100 Bei Siestri rollt aus einem Thal hervor
Ein schöner Fluß, den das Geschlecht der Meinen
Zu seinem ersten Titel sich erkor.  99-102
103 Ich fühlt' als Papst fünf Wochen lang, daß Einen,
  Der rein die Stola hält, sie so beschwert,
Daß leicht wie Flaum all' andre Bürden scheinen.
106 Und leider ward ich nur zu spät bekehrt.
Doch als ich zu dem heil'gen Stuhl gelangte,
Da ward ich von des Lebens Trug belehrt.
109 Ich sah, daß dort das Herz nie Ruh' erlangte,
Das jenes Leben mir nichts Höh'res bot,
Daher ich heiß nach diesem nur verlangte.
112 Bis dahin war ich arm, getrennt von Gott,
Und völlig machte mich der Geiz zum Sklaven,
Dafür sieh mich bestraft mit dieser Noth.
115 Die Läut'rungsqualen, die mich hier betrafen,
Thun dir des Geizes Art und Wesen kund,
Und auf dem Berg giebt's keine härtern Strafen.
118 Wie einst das Auge nicht nach oben stund,
Und nur gefesselt war von ird'schen Dingen,
So drückt's Gerechtigkeit hier an den Grund.
121 Und wie den Trieb, das Gute zu vollbringen,
Der Geiz erstickt und nimmer handeln läßt,
So hält Gerechtigkeit in festen Schlingen
124 Hier Hand und Fuß gebunden und gepreßt;
So liegen wir, bis uns der Herr die Glieder
Einst wieder lös't, hier unbeweglich fest."
127 Antworten wollt' ich ihm und kniete nieder,
Doch, da ich sprach, und er durch's Ohr erkannt,
Daß Ehrfurcht mich gebeugt, begann er wieder:
130 "Was kniest du hier?" Und ich drauf: ""Ich empfand 130
Ob deiner Würde Vorwürf' im Gewissen,
Daß ich vor dir noch grad und aufrecht stand.""
133 "Bruder, steh' auf!" - so Er - "du mußt ja wissen,
Dein Mitknecht bin ich nur vor einer Macht,
Der du und ich und All' uns beugen müssen.
136 Und hattest du des heil'gen Spruches Acht136
Sie freien nicht, so wirst du dir erklären,
Was ich bei meiner Rede mir gedacht.
139 Jetzt geh. Dein Weilen hemmt den Lauf der Zähren,
Die früher mir - denk' an dein eignes Wort140
Das Morgenlicht des ew'gen Heils gewähren.
142 Alagia, ein' Nichte, hab' ich dort142
Gut von Natur, reißt nicht zu schlechten Trieben
Sie der Verwandten übles Beispiel fort,
145 Und sie allein ist jenseits mir geblieben."

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Zwanzigster Gesang

Erläuterungen:

1-3 In der letzten Stunde vor Sonnenaufgang, wo der Rest der Wärme des vorigen Tages ganz verschwunden, und von der kalten Erde und ihren Dünsten verzehrt ist. Eine gleiche, die Wärme verzehrende Kraft schreibt der Dichter auch dem kalten Planeten Saturn zu.

4-6 Geomanten, diejenigen, welche die Kunst der Geomantie trieben, die Kunst, aus mancherlei Dingen zu wahrsagen, unter andern auch, was hier gemeint ist, aus bestimmten Reihen ungezählt hingezeichneter Punkte, welche nach gewissen Regeln in verschiedene Figuren getheilt wurden, deren jede ihren eigenen Namen hatte. Eine derselben hieß fortuna maior, und zeigte sich dann, wenn es sich traf, daß die abgetheilte Zahl der Punkte übereinstimmte mit der Zahl der letzten Sterne des Zeichens des Wassermanns, wenn dieses schon völlig über dem Horizont hinaufgestiegen war, und den ersten Sternen des Zeichens der Fische, wenn solches eben am Horizont emporstieg. Beides geschieht, wenn die Sonne im Widder aufgeht, zur Zeit der Morgendämmerung, die durch diese maggior fortuna der Geomanten noch näher angedeutet wird. Das eitle Bestreben der Geomanten, aus der Verbindung ihrer Punkte mit den Zeichen des Himmels das künftige Glück zu erkennen, ist wohl nicht ohne Absicht hier in Beziehung genommen.

7 ff. In den folgenden Kreisen büßen diejenigen, welche falschen Gütern zu heftig nachgestrebt haben, für Geiz, Schwelgerei und Wollust. Das Weib, das sich hier darstellt, ist die falsche Glückseligkeit. Dem unbefangenen Auge zeigt sie sich, wie der Dichter sie V. 7-9 malt. Aber wenn die Leidenschaft sie betrachtet, erhält sie Reize, die verschwinden, sobald die Wahrheit sie in ihrer wirklichen Gestalt zeigt.

28 Die Wahrheit ruft den Virgil, d. i. die Vernunft, auf, zu sagen, was die falsche Glückseligkeit sei. Und indem die Vernunft die Wahrheit fest betrachtet, wird von der letztern die lockende Sirene aller ihrer Reize entkleidet und in ihrem wahren Wesen gezeigt.

39 Wenn die Reisenden bald die Morgen-, bald die Abendsonne im Gesicht oder im Rücken haben, so wird man sich erinnern, daß sie im Kreise um den Berg gehen.

41 Auch dies Bild ist sehr plastisch und stellt einen Mann dar, der, tief nachdenkend, mit Kopf und Oberleib vorgebeugt geht. Wenn zwei in gleicher Stellung gegen einander treten, wird ein, wenn auch nicht ganz regelrechter Bogen fertig sein.

49-51 Auch hier verschwindet wieder ein P von der Stirn des Dichters, da er nun von dem Fehler der Trägheit zum Guten gereinigt ist. Der Engel preist diejenigen glücklich, welche auch durch Leid und Mühe sich im lebendigen Streben nach dem Höchsten nicht stören lassen (Matth. Kap. 7 V. 4.)

58 In den oberen Kreisen, wohin jetzt die Reise der Dichter geht, werden diejenigen geläutert, welche in unmäßiger Gier nach irdischen Gütern der falschen Glückseligkeit nachgestrebt und daher der echten und wahren vergessen haben.

60 Man entgeht dem Streben nach falscher Glückseligkeit, indem man sie in ihrer wahren Gestalt betrachtet.

61 Indem die Dichter im Begriffe sind, den Kreis zu betreten, in welchem die Geizigen büßen, zeigt Virgil mit kurzen Worten auf den Himmel, der, sei es als das Gebiet unermeßlicher Welten, oder als Erinnerung an das geistig Ewige, die Erde mit allen ihren Gütern als kaum der Betrachtung werth erscheinen läßt, dessen bloßer Anblick daher im Stande sein sollte, den Geiz, bis auf die letzte Spur aus dem Menschenherzen zu tilgen. Die Buße der Geizigen macht diese Ermahnung noch eindringender. Sie liegen hier am Boden, das Gesicht der Erde zugekehrt, in deren Schätzen sie den einzigen Gegenstand ihres Strebens erkannten. In der Sehnsucht nach dem freien Blicke zum Himmel sollen sie sich von ihrer Sünde reinigen. Die nähere Bezeichnung des Verhältnisses der Buße zum Laster s. V. 118-126. In dieser Stelle spricht der Dichter deutlicher als sonst aus, daß die Art der Qualen, welche er die sich Läuternden erdulden läßt, den Fehler darstellt, welchem sie im Leben ergeben waren. Wenn manche Ausleger, die überall Neues und oft wenig Verständliches auswittern, solche bezeichnende und klare Stellen näher betrachten wollten, so würden sie sich lieber an das Einfachere halten, das für den gesunden Sinn zugleich das Schönere und Tiefere ist.

74 Der Schatten glaubt, ein anderer Schatten spreche mit ihm, und bezeichnet daher dem Fragenden den Weg für den Fall, daß er sich frei vom Geize fühle, und daher nicht hier büßen müsse. Vergl. V. 90.

99-102 Der hier sprechende Schatten ist Papst Hadrian der Fünfte, aus dem Hause der Fieschi, Grafen von Lavagna. Den letzten Namen legten sie sich von einem Flusse bei, der im Genuesischen zwischen Siestri und Chiaveri hervorströmt.

130 Bemerkenswerth ist, daß hier, wo die ewige Ordnung herrscht, der büßende Papst sich vor anderen Büßern durch nichts unterscheidet. In der Hölle (Ges. 11 V. 8) finden wir für den Papst Anastasius ein großes Grab, und unter den Simonisten (Ges. 19) für die Päpste ein besonderes Loch. Auch vor der Pforte des Fegefeuers sahen wir noch die Großen der Erde von den Uebrigen gesondert. Ges. 7 V. 91 ff.

136 Christus, befragt, welchem von sieben Brüdern, die hinter einander eine Frau gehabt, ohne mit ihr Kinder zu erzeugen, diese Frau angehören werde? antwortete: "Wenn sie von den Todten auferstehen, so werden sie nicht freien, noch sich freien lassen." Hadrian bezieht dies auf seine Vermählte, die Kirche, die mit seinem Tode aufgehört habe, ihm ihre Würde zu leihen.

140 Denk' an dein eignes Wort. Vergl. V. 91-93.

142 Alagia, Nichte Hadrians, wie Einige versichern, mit dem Marchese Marcello Malaspina vermählt.