Uebersicht   

Das Fegefuer.

Achtzehnter Gesang.

1 Mein hoher Lehrer hatte seiner Lehre
  Ein Ziel gesetzt, und blickt' aufmerksam mir
  Ins Angesicht, ob ich zufrieden wäre.
4 Ich, noch gereizt von frischem Durst nach ihr,
  Schwieg äußerlich, doch sprach bei mir im Stillen:
  "Beschwert ihn wohl zu viele Wißbegier?"
7 Doch der wahrhafte Vater, der den Willen,
  Den schüchternen, bemerkt, gab sprechend jetzt
  Mir neuen Muth, des Sprechens Lust zu stillen.
10 Drum ich: ""Dein Licht, mein theurer Meister, letzt
  Mein Auge so, daß es an allen Dingen,
  Die du beschreibst, klar schauend sich ergetzt.
13 Doch, süßer Vater, laß es tiefer dringen.
  Was ist doch jene Lieb' - ich bitte, sprich: -
  Aus welcher gut' und schlechte Werk' entspringen?""
16 "Scharf richte deines Geistes Aug' auf mich,"
  Versetzt' er, "und den Irrthum jener Blinden,
  Die sich zu Führern machen, lehr' ich dich.
19 Der Geist, geschaffen, Liebe zu empfinden, 19ff.
  Bewegt sich schnell zu Allem, was gefällt,
  Wenn Reize sich, ihn zu erwecken, finden.
22 Was Wirklichkeit euch vor die Augen stellt,
  Faßt der Begriff, um es dem Geist zu zeigen,
  Der dann dorthin nur sich gerichtet hält.
25 Und diese Richtung, dies Entgegenneigen,
  Lieb' ist es, ist Natur, die dem, was schön
  Und reizend ist, sich hingiebt als ihm eigen.
28 Dann, wie die Flamm' emporglüht zu den Höhn,
  Durch ihre Form bestimmt, dorthin zu streben,  29
  Wo ihre Stoffe minder schnell vergehn,
31 So scheint der Geist der Sehnsucht nur zu leben,
  Der geistigen Bewegung, die nicht ruht,
  Bis, was er liebt, sich zum Genuß ergeben.
34 Drum sieh, wie noth die Wahrheit Jenen thut,
  Die, lehren wollend, noch den Irrwahn hegen,
  Jedwede Lieb' an sich sei recht und gut.
37 Gut ist vielleicht ihr Grundstoff allerwegen;
  Doch sei das Wachs auch echt und gut, man preist
  Das Bild, drin abgedrückt, noch nicht deswegen."
40 Drauf ich:""Dein Wort und mein folgsamer Geist,
  Sie lassen mich der Liebe Wesen sehen,
  Obgleich der Geist noch zweifelschwanger kreist.
43 Denn, muß durch äußern Reiz die Lieb' entstehen,
  Lenkt die Natur die Seele, wie ist's dann
  Verdienstlich, ob wir krumm, ob grade gehen?
46 "Hör' itzt, wie weit Vernunft hier schauen kann,"
  So Er, "dort stellt Beatrix dich zufrieden,
  Denn jenseits fängt das Werk des Glaubens an.
49 Die wesentliche Form - sie ist geschieden
  Vom Stoff und ihm vereint, und eine Kraft,
  Die ihr nur eigen ist, ist ihr beschieden.
52 Sie kann, nicht fühlbar, bis sie wirkt und schafft,
  Durch Wirkung nur sich zeigen und bewähren,
  Wie durch das Laub des Baumes Lebenssaft.
55 Daher vermag der Mensch nicht, zu erklären,
  Woher zuerst in ihm Begriff' entstehn,
  Woher das erste Sehnen und Begehren.
58 Denn wie den Trieb, dem Honig nachzugehn,
  Die Bien' erhielt, so habt ihr sie erhalten,
  Die nicht zu loben ist und nicht zu schmähn.
61 Doch fühlt ihr auch die Kraft, die Rath giebt, walten,
  Uns sie, der andern Haupt und Herrscherin,
  Soll' Wach an eures Beifalls Schwelle halten.
64 Sie, des Verdienstes und der Schuld Beginn,
  Nimmt, wie euch gut' und schlechte Lieb' entzündet,
  Sie auf und lenkt zu eurer Wahl euch hin.
67 Drum haben Jene, so die Sach' ergründet,
  Die angeborne Freiheit wohl bedacht,
  Und euch die Lehren der Moral verkündet.
70 Mag wirklich nun im Innern, angefacht
  Von der Nothwendigkeit, die Lieb' entbrennen,
  So habt ihr doch auch sie zu zügeln Macht.
73 Die edle Kraft wird Beatrice nennen,
  Wenn sie dir kund vom freien Willen thut,
  Drum merk' es, um des Wortes Sinn zu kennen."
76 Der Mond, der fast bis Mitternacht geruht76
  Kam jetzt hervor, der Sterne Zahl beschränkend,
  Gleich einem Kessel anzusehn von Glut,
79 Den Pfad dem Himmelslauf entgegen lenkend,
  Den Pfad, den Sol, von Rom gesehn, durchglüht,
  Inmitten Sard' und Cors' ins Meer sich senkend.
82 Der edle Geist, ob deß im Ruhme blüht   82
  Pietola vor Mantua's andern Orten,
  War jetzt nicht mehr durch meine Last bemüht.
85 Ich, der die Zweifel all' in seinen Worten
  Gelöset sah, und Alles hell und klar,
  Stand wie ein Schläfriger hinbrütend dorten.
88 Doch plötzlich naht' im Kreislauf eine Schaar,   88
  Und scheuchte diese Schläfrigkeit des Matten,
  Da sie bereits in unserm Rücken war.
91 Und wie Böotiens Flüss' in nächt'gen Schatten  91
  Ein wild Gedräng an ihrem Strande sahn,
  Wenn die Thebaner Bacchus nöthig hatten,
94 So sah ich Jen' im Kreise trabend nahn
  Und Alle trieb - so wollte mir's erscheinen -
Gerechte Lieb' und wackrer Eifer an.
97 Und schon bei uns, denn zögern sah ich Keinen,
  War angelangt der ganze große Hauf'.
  Da riefen die zwei Vordersten mit Weinen:
100 "Rasch zum Gebirge ging Mariens Lauf."  100
"Und Cäsar, um Ilerda zu gewinnen,  101
Umschloß Marseill', und brach nach Spanien auf."
103 "Rasch, laßt aus Trägheit nicht die Zeit entrinnen,"
  Schrie'n Alle nun, "es macht der rege Fleiß
Zum Guten neu der Gnade Lenz beginnen."
106 "O Ihr, in denen Eifer scharf und heiß
Das, was ihr dort aus Lauheit nicht vollbrachtet,
Was ihr versäumt, wohl zu ersetzen weiß,
109 Der welcher lebt - nicht sag' ich Lügen - trachtet
Emporzusteigen, wenn der Morgen wach,
Drum sagt den Weg, den ihr den nächsten achtet."
112 Mein Führer sagte dies, und Einer sprach:
"Wollt ihr zum Orte, wo der Fels, gespalten
Zur Schluft, euch durchziehn läßt, so folgt uns nach.
115 Uns ist es nicht erlaubt, uns aufzuhalten,
Denn Eile treibt uns fort, drum mögt ihr nicht,
Was uns das Recht gebeut, für Grobheit halten.
118 Ich übt' in Zeno's Haus des Abtes Pflicht,   
Unter des guten Rothbart Herrscherstabe,
Von welchem Mailand noch mit Schmerzen spricht.
121 Und Einer, schon mit einem Fuß im Grabe,
Er weint, gedenkend jenes Klosters, bald,
Daß er gehabt dort Macht und Ansehn habe,
124 Weil er den Sohn, verpfuscht an der Gestalt,
Noch mehr verpfuscht am Geiste, schlecht geboren,
Anstatt des wahren Hirten dort bestallt." -   118-126
127 Ob er noch sprach? ob schwieg? vor meinen Ohren
Verklang, sich schnell entfernend, jener Ton.
Doch merkt' ich dies, und hab' es nicht verloren,
130 Und Er, in jeder Noth mein Helfer schon,
Sprach: "Sieh dorthin, woher die Beiden kommen,
Die Trägheit scheuchend und ihr selbst entflohn."
133 Sie riefen Jenen nach: "Erst umgekommen  133
War jenes Volk, dem sich das Meer erschloß,
Bevor der Jordan seine Herrn bekommen.
136 Und Jenes, das die edle Müh' verdroß,  136
Bis an sein Ziel Aeneen zu begleiten,
Es ward seitdem ein ruhmlos schlechter Troß."
139 Die Schatten schwanden kaum in fernen Weiten,
Als ein Gedank' aufs Neu' in mir entstand,
Und dieser Erste zeugte bald den Zweiten,
142 Dem sich der Dritte, Viert' entwand,
Bis mir zuletzt die Augenlieder sanken;
Und wie verschmelzend Bild um Bild verschwand,
145 Da ward zum Traum das Wogen der Gedanken.

Seitenanfang

Neunzehnter Gesang

Erläuterungen:

19 ff. Dante erbittet sich vom Virgil noch weitere Erklärung über das Wesen der Liebe, und weiterhin V. 43 darüber, wie die Liebe, da sie durch äußern Anlaß entstehe, verdienstlich oder verwerflich sein könne? Folgendes ist im Wesentlichen die Antwort, die nur eine weitere Entwicklung dessen ist, was im vorigen Gesange vorgetragen worden. Die Liebe ist die Hinneigung des Geistes zu einem sein Wohlgefallen erregenden Gegenstande. Aus ihr geht die Sehnsucht hervor, die nach Besitz strebt. Sie ist, wenn auch ihre Grundlage in der Seele selbst im Allgemeinen gut ist, doch für sich selbst weder gut noch schlecht, sondern wird das Eine und das Andere nur auf die im vorigen Gesange angegebene Weise. Wie zuerst in der Seele (der wesentlichen Form), die, selbst unkörperlich, sich nur durch Handlungen im Aeußern zu erkennen geben kann, die Begriffe von dem entstehen, was schön und des Strebens Werth ist, vermag der Mensch nicht zu erkennen; erst jenseits wird ihm dies aufgeschlossen werden. Gewiß ist es aber, daß diese auf geheimnißvolle Art in uns entstandenen Begriffe und die daraus entkeimten Neigungen nicht die falsche Liebe entschuldigen, weil wir neben ihnen auch die Kraft, die Rath giebt, in uns fühlen, und in Fähigkeit, ihrem Rathe auch gegen jene Neigungen zu folgen. Vernunft und Willensfreiheit bedingen daher das Verdienst und die Strafbarkeit der menschlichen Handlungen.

29 Dorthin nach der Wölbung des Mondhimmels, wo nach der Physik jener Zeit das Element des Feuers seine Sphäre hat.

76 Vollmond war mit dem Anfang der Reise Dante's eingetreten. Nach dem Vollmonde, bei dessen Abnehmen, verdunkelt sich ein Segment seiner Scheibe östlich, wodurch er die Gestalt eines Kessels erhält. Nach dem Vollmonde erscheint der Mond täglich eine Stunde später über dem Horizont, und mußte daher jetzt, da die Reise bereits fünf Tage gedauert hatte, um fünf Stunden später nach Sonnenuntergange, also fast um Mitternacht aufgehen. Der scheinbare Umlauf des ganzen Himmelsgewölbes (cielo) ist von Osten nach Westen, der periodische Lauf des Mondes aber von Westen nach Osten, da er jeden Tag weiter östlich aufgeht, daher jenem entgegen (contra l' ciel). Er durchläuft den Thierkreis und steht hier in dem Sternbilde, das demjenigen, worin die Sonne steht, entgegengesetzt ist, also im Scorpion. Dieser ist nicht genannt, allein bestimmt angedeutet, indem gesagt wird, daß wenn die Sonne diese Wege (strade) durchflammt, man sie von Rom aus in der Gegend zwischen Sardinien und Corsica untergehen sieht, was im October, wenn die Sonne im Scorpion steht, der Fall ist.

82 Der edle Geist, Virgil, zu Andes geboren, wo jetzt, wie man glaubt, Pietola steht, ein kleiner Ort im Mantuanischen, wurde nun nicht weiter vom wißbegierigen Dichter mit Fragen belästigt.

88 In diesem Kreise läutern sich diejenigen, welche im Leben dem ersten Gute nicht eifrig genug nachgestrebt haben, die geistig Trägen, durch die Schnelligkeit, mit welcher sie den Läuterungsort durcheilen.

91 Im Original sind die Flüsse Ismenus und Asopus benannt. Nach Statius rannten die Thebaner, wenn sie der Hülfe des Bacchus bedürften, Nachts in großer Zahl mit brennenden Fackeln entlang jener Flüsse und riefen mit großem Geschrei den Gott bei seinen verschiedenen Namen.

100 In den unteren Kreisen thaten sich die Bilder der entgegengesezten Tugend und der Wirkung des bereuten Lasters durch Bildwerke, Stimmen und Traum kund; hier halten diejenigen, welche im Leben aus Trägheit diese Beispiele nicht beachteten, solche sich während ihres eiligen Laufes selbst vor und zeigen auch hierdurch ihr eifriges Streben nach Reinigung. - Maria (nach der Verkündigung) stand auf und ging auf das Gebirge endelich (Luc. 1, 39) .

101 Als Pompejus aus Italien entwichen war, beschloß Cäsar, dessen von Afranius und Petrejus wohl angeführtes Heer in Spanien anzugreifen. Als Massilia sein Heer nicht aufnehmen wollte, ließ er die Stadt von einem seiner Unterfeldherren belagern und drang unaufhaltsam, alle Hindernisse, die der Feind und die Natur ihm entgegensetzten, überwindend und nur seinen Hauptzweck verfolgend, nach Spanien vor.

118-126 Der Sprechende ist Albertus, vormals, unter Kaiser Friedrich des Ersten Regierung, Abt von Jena in Verona. Wie hart Mailand wiederholt dieses Kaisers Zorn besonders im Jahre 1162 fühlte, ist ausführlich in Raumer's Geschichte der Hohenstaufen zu lesen. - Albert della Scala, Herr von Verona, setzte kurz vor seinem Tode seinen natürlichen Sohn, der verkrüppelt an Körper und Geist war, mit Gewalt als Abt jenes Klosters ein, wofür ihm hier baldige Buße voraus verkündigt wird.

133 Beispiele übler Folgen der Trägheit. - Die Juden, welchen das rothe Meer sich zum Durchzug geöffnet hatte, starben, bis auf Josua und Caleb, alle, ehe sie das gelobte Land erreichten, zur Strafe ihrer Trägheit in Befolgung der göttlichen Befehle.

136 Diejenigen Trojaner, welche, ermüdet von den Beschwerden und Gefahren, die sie unter des Aeneas Führung erduldet, ihn verließen und in Sicilien blieben.