Uebersicht   

Das Fegefeuer.

Sechszehnter Gesang.

1 Das Schwarz der Höll' und einer Nacht, durchfunkelt  1
  Nicht von des ärmsten Himmels bleichstem Schein,
  Vom dichtesten der Nebel rings umdunkelt,
4 Nie schloß es mich in gröbern Schleier ein,
  Als jener Rauch, der dorten uns umflossen;
  Nie schien es mir so schmerzlich rauh zu sein.
7 Nicht konnt' ich stehn, die Augen unverschlossen,  7
  Drum nahte sich, und seine Schulter bot
  Mein Führer mir, treu, weis' und unverdrossen.
10 So wie der Blinde gern in seiner Noth
  Dem Führer nachfolgt, um nicht anzurennen
  An was Gefahr bringt und vielleicht den Tod,
13 So folgt' ich ihm, ohn' etwas zu erkennen,
  Durch widrig bittern Qualm, und horcht' auf ihn,
  Der sprach: "Gieb Achtung, daß wir uns nicht trennen."
16 Ich hörte Stimmen dort, und jede schien
  Um Gnad' und Frieden zu dem Lamm zu stöhnen,
  Ob deß der Herr die Sünden uns verziehn.
19 Agnus Dei, hört' in den Anfang tönen.
  Wobei sich Aller Wort und Weise glich,
  Und voller Einklang herrscht' in ihren Tönen.   21
22 ""Dies sind wohl Geister, Herr!"" so wandt' ich mich
  An ihn, und Er: "Es ist, wie du entscheidest;
  Sie lösen von der Zornwuth Schlingen sich."
25 "Wer bist du, der du unsern Rauch durchschneidest,
  Von dem man, wie du von uns sprichst, vernimmt,
  Daß du die Zeit dir noch nach Monden scheidest?"
28 Die Rede ward von Einem angestimmt,
  Drum sprach mein Meister: "Stille sein Begehren,
  Und frag' ihn, ob man hier nach oben klimmt."
31 ""Geschöpf, das, um zum Schöpfer heimzukehren,
  Sich reiniget und schön wird, wie zuvor,
  Begleite mich, dann sollst du Wunder hören!""
34 So ich, und Er: "Ich schreite mit dir vor,
  So weit ich darf, und, um uns nicht zu scheiden,
  Führ' uns im Rauch an Auges-Statt das Ohr."
37 Drauf ich: ""Obschon die Hüllen mich umkleiden,
  Die nur der Tod lös't, schreit' ich doch hinauf,
  Und drang bis hieher durch der Hölle Leiden.
40 Und nahm der Herr mich so zu Gnaden auf,
  Daß ich vermag zu ihm empor zu streben,
  Ganz gegen dieser Zeit gewohnten Lauf,  42
43 So sage mir, wer warst du einst im Leben,
  Und ob ich hier die rechte Straße hielt,
  Denn unsre Richtung wird dein Wort uns geben.""
46 "Mark hieß ich einst, und was die Welt enthielt,  46
  Ich kannt' es wohl, und strebte nach dem Preise,
  Nach welchem jetzt auf Erden Keiner zielt.
49 Grad' vor dir ist der Weg zum höhern Kreise."
  Er sprach's: "Noch bitt' ich dich," so fügt' er bei,
  "Fürbittend denke mein am Ziel der Reise."
52 Und ich zu ihm, ""Bei meiner Treu', es sei!
  Doch wisse, daß ich einen Zweifel finde,
  An dem ich berste, sag' ich ihn nicht frei.
55 Er war einst einfach, doppelt jetzt empfinde
  Ich ihn in mir, nach dem was du gesagt,
  Sobald ich mit dem Dort das Hier verbinde.
58 Wahr ist's, die Welt, so wie du mir geklagt,
  Ist öd' an jeder Tugend, jeder Ehre,
  Und ganz mit Bosheit schwanger und geplagt,
61 Doch daß ich sie erkenn' und Andern lehre,
  So bitt' ich, deute jetzt die Ursach' mir.
  Der sucht sie dort, der in des Himmels Sphäre.""   53-63
64 Ein bang gepreßtes Ach! entwand sich hier
  Laut seiner Brust, und dann begann er: "Wisse,
  Die Welt ist blind, und du, Freund, kommst von ihr.
67 Ihr, die ihr lebt, sprecht immer nur, es müsse  67 ff.
  Der Himmel selber Schuld an Allem sein,
  Als ob er euch gewaltsam mit sich risse.
70 Wär's also, sprich, wo wäre nur ein Schein
  Von freiem Willen? wie entspräch's dem Rechte,
  Daß Lust der Tugend folgt, dem Laster Pein?
73 Die Triebe pflanzen ein des Himmels Mächte,
  Nicht sag' ich all, allein auch dies gesetzt,
  Ward Euch Erkenntniß auch fürs Gut' und Schlechte,
76 Und freier Will' - und, wenn er, auch verletzt
  Und müde, standhaft mit dem Himmel streitet,
  So siegt er, wohlgenährt, doch stets zuletzt.
79 Dir Urkraft, welche sich durch's All verbreitet,
  Beherrscht die Freien und erschafft den Geist,
  Den nicht der Himmel mehr als Vormund leitet.
82 Drum, wenn die Gegenwart Euch mit sich reißt,
  In euch nur liegt der Grund, liegt in euch Allen,
  Wie, was ich sage, deutlich dir beweist.
85 Es kommt aus dessen Hand, deß Wohlgefallen
  Ihr lächelt, eh' sie ist, gleich einem Kind,
  Das lacht und weint in unschuldsvollem Lallen.
88 Die junge Seele, die nichts weiß und sinnt,
  Als, daß, vom heitern Schöpfer ausgegangen,
  Sie gern dahin kehrt, wo die Freuden sind.
91 Sie schmeckt ein kleines Gut erst, fühlt Verlangen
  Und rennt ihm nach, wenn sie kein Führer hält,
  Kein Zaum sie hemmt, der Neigung nachzuhangen.
94 Gesetz, als Zaum, ist nöthig drum der Welt,
  Ein Herrscher auch, der von der Stadt, der wahren,
Im Auge mindestens den Thurm behält.
97 Gesetze sind, doch wer mag sie bewahren?
  Kein Mensch, denn seht, ein Hirt, der wiederkaut,
  Doch nicht gespaltne Klau'n hat, führt die Schaaren;
100 Daher der Heerde, die dem Führer traut,
Der das verschlingt, wonach sie selber lüstert,
Nur dies verzehrt und nicht nach Höherm schaut. 95-102
103 Drum, was man auch von anderm Grunde flüstert,
  Nicht die Natur ist ruchlos und verkehrt,
Nur schlechte Führung hat die Welt verdüstert.
106 Rom hatte, da's zum Glück die Welt bekehrt,
Zwei Sonnen, und den Weg der Welt hatt' Eine,   107
Die andere den Weg zu Gott verklärt.
109 Verlöscht ward eine von der andern Scheine,
Und Schwert und Hirtenstab von einer Hand
Gefaßt im übel passenden Vereine.
112 Denn nicht mehr fürchten, wenn man sie verband,  112
Sich Hirtenstab und Schwert - du kannst's begreifen,
Denn an den Früchten wird der Baum erkannt.
115 Man sah im Land, das Etsch und Po durchstreifen,   115
Eh' man dem Kaiser Widerstand gethan,
Stets edle Sitt' und Kraft und Tugend reifen.
118 Jetzt finden, die den Guten sich zu nahn
Und sie zu sprechen, sich erröthend scheuen,
In jenem Land vollkommen sichre Bahn.
121 Die alten Zeiten schelten dort die neuen
Noch durch drei Greise von der ächten Art,
Die, harrend, sich des nahen Todes freuen.
124 Konrad Pallazzo ist es, und Gherard
Und Guid' Castel, der besser heißen würde
Nach fränk'scher Art: der ehrliche Lombard.   124-126
127 Roms Kirche fällt, weil sie die Doppelwürde,   127
Die Doppelherrschaft jetzt in sich vermengt,
In Koth besudelnd sich und ihre Bürde." -
130 ""Mein Marco,"" sprach ich, ""klares Licht empfängt
Durch deine Rede jetzt mein Geist - ich sehe  131
Was aus der Erbschaft Levi's Stamm verdrängt.
133 Doch sage, welcher Gherard, meinst du, stehe
Als Trümmer noch versunkner guter Zeit,
So, daß er dieser Zeit Verderbniß schmähe?""
136 "Betrügst, versuchst du mich in meinem Leid?"
So Er: "Du, Tuscisch sprechend, thust dergleichen,
Als kenntest du nicht Gherards Trefflichkeit?
139 Den Namen kenn ich, sonst kein andres Zeichen,
Wenn man's von seiner Gaja nicht entnimmt,
Gott sei mit dir, hier muß ich von euch weichen.
142 Sieh, wie im weißen Glanz der Rauch entglimmt.
Fort muß ich, denn schon ist der Engel dorten;
Ich scheid', eh' er mich wahr hier sprechend nimmt."
145 Er sprach's, und horchte nicht mehr meinen Worten.

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Siebenzehnter Gesang                                            

Erläuterungen:

1 Im Rauche, und zwar im dichtesten, schwärzesten, läutern sich die Schatten von der Zornwuth. Der Rauch ist das Erzeugniß des Feuers, ein Erzeugniß, welches, ohne zu wärmen und zu erleuchten, nur Augen und Geist umnebelt und trübt - dasjenige, was das Feuer absondert und auswirft, um zu erwärmen und zu erleuchten. Hieraus wird sich von selbst erläutern, warum eben im Rauche die Zornwüthigen ihren Fehler erkennen und sich von ihm reinigen sollen.

7 Virgil bot dem Dichter die Schulter an, um ihn in der Dunkelheit des Rauches den Weg nicht verlieren zu lassen. Die allegorische Bedeutung ist klar. Ueber die Körperlichkeit des Schattens, welche bei dem Anfassen seiner Schulter vorausgesetzt wird, vergl. Anm. zur Hölle Ges. 3 V. 34 und Ges. 6 V. 35. Der hier voraugesetzten Körperlichkeit widerspricht jedoch die Stelle des Fegefeuers Ges. 21 V. 131 u. 132.

21 Auch hier herrscht vollkommener Einklang bei denen, die sich läutern, und in diesem Einklange schon zeigt sich der Fortschritt der Läuterung.

42 Weil nur aus älterer Zeit Beispiele von Solchen erzählt werden, welche lebend in die Reihe der Todten eingedrungen. (Vergl. Hölle Ges. 2 V. 13 ff.)

46 Mark, ein edler Venezianer, des Dichters Freund, ein Mann von großem Werthe, ein geübter Hofmann, und dennoch, der dadurch erlangten großen Uebung in Selbstbeherrschung und Geduld zum Trotz, sehr geneigt zum Zorne.

53-63 Der Dichter selbst ist überzeugt, daß die Welt im Argen liege. Was ihm im vierzehnten Gesange Guido del Duca schon gesagt hat, und was ihm jetzt Marco sagt, bestärkt ihn noch mehr in dieser Ueberzeugung. Aber um desto dringender wird seine Begierde, zu wissen, od diese Verderbniß Werk des verdorbenen Willens oder Folge der Vorausbestimmung einer höhern Macht ist.

67 ff. Der Himmel flößt die Triebe ein, wenn auch nicht alle, da aus der verkehrten Richtung, welche die falsche Anwendung der eingepflanzten Triebe uns giebt, neue, nicht natürliche entstehen. Um aber die Triebe naturgemäß brauchen zu können, gab uns Gott die Erkenntniß des Guten und Schlechten, und die Freiheit des Willens. Mit diesem Willen sollen wir gegen den Anreiz zum Schlechten kämpfen, auch dann noch, wenn wir erkennen, daß wir diesem Anreiz bereits zu viel nachgegeben haben; der Anreiz selbst kommt von dem der Seele natürlichen Streben nach Genuß und Freude, das uns aber nicht weiter verlocken darf, als das Gesetz es erlaubt.

95-102 Die wahre Stadt ist Ges. 13 V. 94-96 und in der dazu gehörigen Anmerkung näher bezeichnet. Der Herrscher, der, wenn er auch jene wahre Stadt noch nicht bewohnen kann, doch wenigstens das im Auge behalten soll, woran man sie auch aus der Ferne erkennt, ist unstreitig der obere geistliche Hirt. Von diesem Hirten wird wunderbarer Weise bemerkt, daß er die Eigenschaften, welche nach dem mosaischen Gesetz (3. B. Mosis Kap. 11 V. 3 [Alles, was unter den Vierfüßlern gespaltene, und zwar durchgespaltene Klauen hat und wiederkäut, dürft ihr essen.]) ein reines und eßbares Thier in sich vereinigen soll, zum Theil habe, zum Theil nicht. Die alten Theologen sollen aus dieser Vorschrift wichtige Symbole herausgefunden, und im Wiederkäuen die Weisheit, in den gespaltenen Klauen aber die guten Sitten erkannt haben. Wir überlassen es feineren Geistern, hiernach auch den Sinn dieser Stelle zu deuten, halten uns aber selbst an das, was näher liegt. Der Sprechende erklärt den Papst, der 1300 regierte (Bonifaz den Achten), kurzweg für ein unreines Thier, und sagt damit wenigstens nichts, was ärger wäre, als das, was der Dichter in der Hölle Ges. 19 V. 52-57 Nikolaus den Dritten über denselben sagen läßt. Dies Thier wiederkäut zwar, d. h. es verschlingt hastig, so viel es kann, um das Verschlungene nachher behaglich zu verspeisen; aber es hat keine gespaltenen Klauen, folglich geschlossene Fäuste, mit welchen, wie der Dichter uns ebefalls in der Hölle Ges. 7. V. 57 belehrt, einst die Geizigen aus dem Grabe erstehen. - Die folgenden Verse scheinen diese ganz einfache Erklärung zu unterstützen.

107 Zwei Sonnen, den Kaiser und den Papst.

112 Hirtenstab und Schwert sind bestimmt, sich gegenseitig zu fürchten. Der Kaiser mit dem Schwerte soll den Papst abhalten, die Religion zur Einmischung in weltliche Dinge zu mißbrauchen; der Papst mit dem Hirtenstabe soll nicht gestatten, daß die inneren Angelegenheiten der Religion Gegenstand weltlichen Regiments werden. Sind beide in einer Hand, so ist der heilsame Zügel verschwunden, durch den sie gegenseitig sich in ihren Gränzen zurückhalten, oder dahin zurückweisen, wenn der eine oder andere Theil sie überschritten haben sollte.

115 Mit diesem Verse ist die Trevisaner Mark, die Lombardei ind die Romagna bezeichnet. Bitterer konnte die allgemeine Verderbniß dieser Länder wohl nicht gerügt werden, als durch die Verse 118-120.

124-126 Von den hier benannten Männern wissen die Commentatoren nichts weiter zu berichten, als daß sie würdige alte Edelleute aus Brescia, Tervigi und Reggio waren, und daß Gerardo da Camino die provenzalischen Dichter verehrte und beschützte. Gaja, seine Tochter, war eine Gelehrte und treffliche Dichterin, welcher auch Schönheit und Klugheit nachgerühmt werden.

127 Roms Kirche, welche geistliche und weltliche Herrschaft auf sich genommen, stürzt unter der Last und besudelt sich selbst und das, was sie zu tragen zu schwach ist.

131 Der Stamm Levi erhielt keinen Theil bei der Vertheilung von Kanaan, wie die übrigen Stämme, sondern wurde in mehrere Städte vertheilt, um das Priesteramt zu verwalten. Aus demselben Grund, warum er kein Land erhielt, sollte auch die Kirche nach keinem weltlichen Besitze streben.