Uebersicht

Das Fegefeuer.

Vierzehnter Gesang.

1 "Wer ist der, welcher unser Berg umgeht,
Eh' ihn der Tod beschwingt - dem nach Behagen,
Das Auge bald sich schließt, bald offen steht?"
4 "Das er allein nicht ist, das kann ich sagen,
Nicht wer er ist. Da ich ihm ferner bin,
Magst du, damit er red', ihn höflich fragen."
7 So redeten, von mir zur Rechten hin,
Zwei Geister dort, sich zu einander neigend,
Dann, um zu sprechen, hoben sie das Kinn. 9
10 "O Seele, die, empor zum Himmel steigend,"
Sprach dann der Eine, "noch im Körper steckt,
O sprich, dich hold und trostreich uns erzeigend,
13 Woher? wer bist du? denn solch' Staunen weckt
Die Gnade, die wir an dir schauen sollen,
Wie wenn, was nie geschehn, sich uns entdeckt."
16 Und ich: ""Ein Fluß, der Falteron' entquollen, 16
Lustwandelt mitten durch das Tuscier-Land,
Dem hundert Miglien Laufs nicht g'nügen wollen.
19 Ich bringe diesen Leib von seinem Strand.
Doch sagt' ich, wer ich sei - nicht würd' euch's frommen, 20
Da wenig Ruhm bis jetzt mein Name fand.""
22 "Bin ich auf deiner Meinung Grund gekommen,
Meinst du den Arno und sein Thalgebiet?"
So sprach jetzt, der zuerst das Wort genommen.
25 Der Zweite sprach darauf: "Warum vermied
Er jenes Flusses Namen zu verkünden,
Wie's sonst nur mit Abscheulichem geschieht?"
28 Und Jener sprach: "Nicht kann ich dies ergründen,
Doch werth des Untergangs ist jenes Wort,
Das nur Erinn'rung weckt an Schmach und Sünden.
31 Denn von dem Ursprung im Gebirge dort,
Von dem sich einst Pelorum trennen müssen,  32
Dort wasserreich, wie sonst an keinem Ort,  33
34 Bis dahin, wo der Fluß mit ew'gen Güssen
Das, was dem Meer die Sonn' entsaugt, ersetzt,
Was Nahrung giebt den Bächen und den Flüssen
37 Wird, sei's durch schlechte Sitt' und Neigung jetzt,
Sei's, daß der Ort an einem Fluche leide,
Die Tugend, gleich den Schlangen, fortgehetzt.
40 Denn was im Thal, gedrückt von schwerem Leide,
Nur irgend wohnt, hat die Natur verkehrt,
Als hätt' es mitgeschmaust auf Circe's Weide;
43 Zu garst'gen Schweinen, mehr der Eicheln werth,
Als dessen, was Natur den Menschen spendet,
Ist erst sein wasserarmer Lauf gekehrt.
46 Dann, wie er weiter seine Wogen sendet,
Trifft er ohnmächt'ge kleine Kläffer an,
Von welchen er die Stirn unwillig wendet.
49 Je mehr er schwillt in seiner tiefern Bahn,
Sieht der unselige verfluchte Graben
Die Hund' an Art sich mehr den Wölfen nahn.
52 In tiefen Tümpeln scheint er drauf vergraben,
Und trifft dann Füchs', in List so eingeweiht ,
Daß sie nicht Scheu mehr vor dem Schlau'sten haben. 43 - 54
55 Frei red' ich, sei der Horcher auch nicht weit,
Und gut wird's diesem sein, das zu behalten,
Was der wahrhafte Geist mir prophezeit.
58 Ich sehe deinen Neffen furchtbar schalten, 58
Der jene Wölfe so zu jagen weiß,
Daß sie vor grauser Todesangst erkalten.
61 Denn er verkauft sie lebend schaarenweis,
Dann sticht er sie, gleich altem Schlachtvieh, nieder.
Das Leben raubt er Vielen, sich den Preis.
64 Zuletzt verläßt er, blutbespritzt die Glieder, 64
Den Wald gefällt und ringsum öd' und todt,
Und tausend Jahr' erneu'n sein Laub nicht wieder."
67 Wie bei Verkündigung zukünft'ger Noth
Des bangen Hörers Züge sich umschatten,
Der sich gefährdet glaubt und rings bedroht,
70 So sah ich jetzo jenen andern Schatten,
Der zugehorcht, verstört und bange stehn,
Wie seinen Geist erfüllt die Worte hatten.
73 Was ich von dem gehört, von dem gesehn,
Mich reizt' es, ihren Namen nachzufragen,
Und bittend ließ ich meine Frag' ergehn.
76 Und den, der erst gesprochen, hört' ich sagen:
"Du also willst, für dich thun soll ich dies,
Was du für mich zu thun mir abgeschlagen?
79 Doch kargen will ich nicht, denn herrlich ließ
Gott in dir strahlen seine Huld und Güte.
Drum wisse, daß ich Guid' del Duca hieß.
82 Von Neid verbrannt war also mein Geblüte,
Daß , wenn ich sah, ein Andrer sei erfreut,
Ich schwarz vor Gall' in bitterm Ingrimm glühte.
85 Hier mäh' ich Saat, die ich dort ausgestreut.
O Sterbliche, was müßt ihr das begehren,
Was Ausschluß der Genossenschaft gebeut!
88 Der hier ist Rainer, der zu Preis und Ehren
Das Haus von Calboli gebracht, deß Muth
Und Kraft und Werth die Erben ganz entbehren.
91 Denn Alle sieht man jetzt aus seinem Blut
Das Schlechte thun, das Rechte träg versäumen,
Und zwischen Po, Berg, Ren und Meeresfluth  93
94 Sieht man's nur sprossen noch in gift'gen Bäumen,
Und keinem Gärtner glückt's, der schlechten Art
Wildwucherndes Gewürzel wegzuräumen.
97 Wo mag der wackre Licio, wo Manard,
Wo Traversar, wo Guid' Carpigna bleiben?
Ist jeder Romagnol heut' ein Bastard?  97 - 99
100 Ein Schmied muß in Bologna Aeste treiben100
Und in Faënza jetzt ein Bernardin,  101
Der edle Sproß aus niederm Keim, bekleiben!
103 Nicht staune, Tuscier, daß ich traurig bin, 
Wenn ich des Guid' von Prata noch gedenke,
Und deß, der mit uns war, des Ugolin.
106 Dann auf Tignoso die Erinn'rung lenke,
Auf Traversar's und Anastasens Haus,
  Und über den enterbten Stamm mich kränke;
109 Auf Ritter, Frau'n, auf Ruhe, Müh' und Straus,
Was wir aus Lieb' und Edelsinn begannen,
Wo jetzt die Herzen sind voll Tück' und Graus.  103 - 111
112 O Brettinoro, fliehst du nicht von dannen,  112
Da, um zu fliehn Verderben, Schand' und Hohn,
Die Guten allesamt aus dir entrannen!
115 Wohl dir, Bagnacaval, dir fehlt der Sohn!  115
Weh, Castrocaro, dir, da mit Verderben
Dich solche Grafen, wie du zeugst, bedrohn,
118 Gut handeln einst, wird erst ihr Dämon sterben118
Faënza's Herrn, doch nimmer werden sie
Des Ruhmes reines Zeugniß sich erwerben.
121 Dir, Ugolin von Fantoli, wird nie
Des edlen Namens reiner Glanz gebrechen,
Da dir das Schicksal keinen Sohn verlieh.
124 Doch jetzt, Toskaner, geh, denn nicht zum Sprechen,
Mich reizt zum Weinen nur mein armes Land,
Und preßt mein Herz durch Unthat und Verbrechen."
127 Durch's Ohr ward Jenen unser Gehn bekannt, 127
Drum wußten wir, da sie es schweigend litten,
Daß wir uns auf den rechten Weg gewandt.
130 Indem wir einsam nun von dannen schritten,
Scholl eine Stimm' uns zu, eh' wir's gedacht,
Gleich einem Blitze, der die Luft durchschnitten:
133 Mich tödtet, wer mich trifft! sie rief's mit Macht 133
  Und floh im schnellen Flug dann, und verhallte
  Dem Donner gleich, der aus den Wolken kracht.
136 Und wie sie kaum an uns vorüberwallte,
Braust' eine zweite schon an unser Ohr,
Die schrecklich, wie ein zweiter Donner schallte:
139 Ich bin Aglauros, die zum Stein erfror!  139
  Und als ich an Virgil mich drängen wollte140
  Schritt ich vor großer Angst zurück, nicht vor.
142 Schon schwieg die Luft, kein dritter Donner rollte,
  Da sprach Virgil:"Dies ist der harte Zaum,
  Der auf der rechten Bahn euch halten sollte.
145 Doch winkt des alten Feindes Köder kaum,
  So laßt ihr euch in seinem Hamen fangen,
  Gebt nicht dem Rufe, nicht dem Zügel Raum.
148 Euch rufend, hält der Himmel euch umfangen,
  Der, ewig schön, rings seine Kreise zieht,
  Doch euer Blick bleibt an der Erde hangen,
151 Und deshalb schlägt euch der, der Alles sieht."

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Fünfzehnter Gesang

Anmerkungen:

9 Die Bewegung der Blinden, wenn sie mit Jemandem zu sprechen anfangen. Ges. 13 V. 102.

16 Der Arno, dessen Namen aus Gründen, die wir weiter unten erfahren, der Dichter nicht nennt, entspringt in der Falterona, einem Gebirge, das zu den Apenninen gehört, und ergießt sich hundert und zwanzig Miglien von seinem Ursprunge ins Meer.

20 Dante hatte schon im Jahre 1300 durch kleinere Schriften, hauptsächlich durch seine schönen Canzonen, sich berühmt gemacht. Daß er von diesem Ruhme hier nichts wissen will, ist wahrscheinlich eine Wirkung der Lasten, unter welchen er eben die Stolzen gebückt gesehen hat.

32 Pelorum, Vorgebirge von Sicilien, nach der Lage der dort befindlichen Erdschichten wahrscheinlich beim Einströmen des Meerarms von Italien abgetrennt.

33 Nahe beim Quell des Arno entspringen noch mehrere andere Bäche und Flüsse.

43 - 54 Der Dichter kommt hier auf die Verdorbenheit seiner Zeit und seines Landes zurück, in deren Züchtigung er unerschöpflich und unversöhnlich ist. Als garstige Schweine bezeichnet er zuvörderst die Einwohner von Casentino, als ohnmächtige kleine Kläffer die von Arezzo. Den Wölfen ähnlich an größerer Kraft und Freßgier findet er die Florentiner, und die Pisaner an List und Trug den Füchsen.

58 Guido del Duca von Brettinoro spricht hier mit Rinier de' Calboli von Forli. Der Neffe des letztern, Fulcieri de' Calboli, war im Jahre 1302 Podesta von Florenz. Von der schwarzen Partei bestochen, ließ er Viele von der weißen verhaften und grausam hinrichten.

64 Wahrscheinlich wird hier der Wald für Florenz gebraucht, weil er der weißen Partei, die auch die Waldpartei benannt wurde, vorzüglich verderblich worden war. (S. die Einleitung und die Anmerkung zum sechsten Gesange der Hölle V. 64.)

93 Abgränzung der Romagna. Reno, ein Fluß an deren südlicher Gränze.

97 - 99 Von den hier benannten Männern wissen die Commentatoren nichts Merkwürdiges weiter anzugeben, als daß sie wackre Leute waren.

100 Lambertaccio, nach Einigen ein Schmied, nach Andern ein edler Kriegsmann, Fabbro genannt, erwarb in Bologna großes Ansehn. Die erste Nachricht stimmt besser mit dem Gedicht überein, da, nach Klagen über die Ausartung edler Geschlechter, eben in dieser Terzine einige Beispiele von Solchen aufgeführt werden, die aus der Niedrigkeit sich emporgeschwungen haben.

101 Bernardin, ein Mann von niederer Geburt, gelangte durch seine Vorzüge zu großem Ansehn in Faënza.

103 - 111 Auch in diesen Versen ist von edlen Vätern die Rede, deren Söhne entarteten.

112 Brettinoro, jetzt Bertinoro, eine kleine Stadt der Romagna. Man muß bei den Ausfällen auf einzelne Städte nicht unbeachtet lassen, daß zu jener Zeit fast jede Stadt im mittlern und obern Italien ein Staat war und wenigstens eine kurze Zeit lang ihre eigene Geschichte hatte.

115 Bagnacavallo und Castrocaro, Städte der Romagna, die zu jener Zeit eigene Grafen hatten.

118 Machinardo Pagani, Herr von Imola und Faënza, erhielt wegen seiner Bosheit und List den Beinamen des Teufels. Seine Söhne waren zwar besser, als er, doch nicht so, wie der Dichter, ihr Zeitgenosse, wünscht.

127 Die Schatten würden hier, wo nur die Liebe und das Streben nach dem Guten wohnt, die Dichter gewarnt und ihnen den rechten Weg gezeigt haben, wenn sie einen falschen eingeschlagen hätten. Darum konnten die Letztern, da Jene schwiegen, sicher sein, nicht zu irren.

133 Hier folgen Beispiele von der Wirkung des Neides als Zügel, um dies Laster zurückzudrängen. Mich tödtet, wer mich trifft - Worte Kains, als er seinen Bruder Abel aus Neid erschlagen. (Moses B. 1 Kap. 4 V. 14.)

139 Aglauros, neidisch auf ihre Schwester Herse, welche von Merkur geliebt war, und aus Neid dieser Liebe entgegentretend, wurde in Stein verwandelt. Wenn der Uebersetzer sagt: die zum Stein erfror, so möge ihn wegen dieses Ausdrucks Ovid entschuldigen, welcher im zweiten Buche der Verwandlungen V. 823 erzählt:
Sed genuum iunctura riget, frigusque per ungues/Labitur etc.
imgl. 827:
Sic letalis hiems paullatim in pectora venit.

140 Nicht die Angst ist's, die uns vorwärts bringt, sondern die besonnene Erwägung. Ohne diese treibt die Bangigkeit uns rückwärts. Daher macht in den folgenden schönen Versen die Vernunft ihre Rechte wieder geltend. Die nähere Erläuterung derselben finden wir im folgenden Gesange V. 43 ff.