Uebersicht

Das Fegefeuer.

Fünfter Gesang.

1 Schon hatt' ich, auf der Spur des Führers steigend,
Mich ganz von jenen Seelen abgewandt,
Als Ein', auf mich mit ihrem Finger zeigend,
4 Mit nachrief: ""Seht den Untern linker Hand
Die Sonne theilen und den Grund beschatten,  5
Und thun, als lebt' er noch in jenem Land."
7 Sobald mein Orh erreicht die Töne hatten,
Kehrt' ich mich ihnen zu, und Jene sahn
Erstaunt nur mich, nur mich und meinen Schatten.
10 Da sprach Virgil: "Was zieht dich also an,  10
Daß du den Gang zum Gipfel aufgeschoben?
Und jenes Flüstern, was hat dir's gethan?
13 Was man auch spreche, folge mir nach oben!
Steh' wie ein fester Thurm, des stolzes Haupt
Nie wankend ragt, wenn auch die Winde toben.
16 Das Ziel entweicht, dem man sich nah geglaubt,
Wenn sich Gedanken und Gedanken jagen
Und einer stets die Kraft dem andern raubt."
19 ""Ich komme schon!"" was konnt' ich anders sagen?
Da mich mein Fehler zum Erröthen zwang,
Das oft mir schon Verzeihung eingetragen.
22 Indessen sahn wir quer am Bergeshang
Nah' vor uns eine Schaar von Seelen kommen,
Die Vers für Vers ihr Miserere sang.
25 Wie sie an meinem Leib nun wahrgenommen,
Daß er den Strahlen undurchdringlich sei,
da ward ihr Sang zum O! lang und beklommen,
28 Und, gleich Gesandten, kamen ihrer Zwei,
Uns Beide zu befragen, wer wir wären,
In vollem Laufe bis zu uns herbei.
31 Da rief Virgil: "Ihr könnt zurückekehren,
Sein Leib ist wirklich ganz von Fleisch und Bein,
Und solches mögt ihr Jenen dort erklären.
34 Und wenn sie, wie ich glaube, dort allein,
Um seinen Schatten anzusehn, verweilen
So wissen sie genug, um froh zu sein."  36
37 Und schnell hingleitend, wie, gleich Feuer-Pfeilen,
Entflammte Dünste, wenn die Nacht beginnt,
Durch's heitere Gewölb' des Himmels eilen;
40 So kehrten sie empor, um dann geschwind
Sich mit den Andern nach uns umzudrehen,
Gleich einer Schaar, die ohne Zaum entrinnt.
43 "Sieh, Viele kommen jetzt, dich anzuflehen,
In dichtem Drang," so sprach mein Meister drauf,
"Doch geh nur immer fort, und horch' im Gehen."
46 "O du, der du zum Heil den Berg herauf  46
Die Glieder trägst, die immer dich umfingen,"
So riefen sie, "hemm' etwas deinen Lauf.
49 Sieh, um zur Welt von uns Bericht zu bringen,
Uns an  -  erkennst du Antlitz und Gestalt?
Was weilst du nicht? Was eilst du, vorzudringen?  51
52 Getödtet sind wir Alle durch Gewalt.
Der Sünd' uns bis zur letzten Stunde weihend,
Allein im Tod von Himmelsglanz umwallt,
55 Verstarben wir, bereuend und verzeihend,
Und fühlten Gottes Frieden und das Licht,
Nach seinem Anschau'n Sehnsucht uns verleihen."
58 Und ich: "" Zwar kenn' ich Keinen von Gesicht,
Doch fordert nur, ihr, die ihr wohl geboren,
Und das, was ich vermag, verweigr' ich nicht.
61 Bei jenem Frieden sei es euch beschworen,
Den ich, fortklimmend auf des Führers Spur,
Von Welt zu Welt, zum Ziele mir erkoren.""
64 Darauf begann der Eine: "Hindert nur
Nicht Ohnmacht deinen Willen, so vertrauen
Wir dem, was du versprachst, auch ohne Schwur.
67 Und solltest du, ein Lebender, die Auen
Der Mark Ankona jemals wiedersehn,  68
So wil ich fest auf deine Güte bauen.
70 Laß die von Fano gläubig für mich flehn,
Daß mir gestatten himmlische Gewalten,
Zur Reinigung von schwerer Schuld zu gehn.
73 Von dort war ich  -  allein die tiefen Spalten,
Woraus das Blut, in dem ich lebte, floß
Hab' ich in Padua's Bezirk erhalten,
76 Deß Schooß mich, den Vertrauenden, umschloß.
Zum Mord hatt' Este den Befehl gegeben,
Der mehr der Gall', als recht, auf mich ergoß.
79 Den Mordstahl sah ich bei Oriac sich heben,
Doch wenn ich Mira mir zur Flucht erkor,  80
So würd' ich dort noch, wo man athmet, leben.
82 Ich lief zum Sumpf, und dort in Schlamm und Rohr
Verstrickt' ich mich und fiel und sah die Erde
Rings um mich her gemacht zum blut'gen Moor."
85 Ein Andrer: "Wie dein Wunsch befriedigt werde,
Deß Fittig hin zum Bergesgipfel fleugt,
So kürz' auch mir mitleidig die Beschwerde.
88 In Montefeltro hat mich Guid' erzeugt;  88
Ach wenn Johannen doch mein Schicksal rührte,
Nicht ging' ich mehr mit diesen hier gebeugt."
91 ""Welche Gewaltthat, welch' Verhängniß führte,""
So sprach ich, ""dich so weit vom Campaldin,
Daß Niemand noch bis jetzt dein Grab erspürte?""
94 "O," sprach er drauf, "am Fuß des Casentin
Strömt vor der Archian, ein Fluß, entsprungen  95
Beim Kloster oberhalb im Apennin.
97 Bis dorthin, wo mein Namenslaut verklungen,
Floh ich, durchbohrt den Hals, zu Fuße fort;
Und blutleer schon, von Todesfrost durchdrungen,
100 Verlor ich dorten Augenlicht und Wort,
Um in Maria's Namen wohl zu enden,
Und fiel und ließ die leere Hülle dort.
103 Da fühlt' ich mich in eines Engels Händen,
Doch schreiend fuhr ein Teufel auch herzu:
"Wie, du vom Himmel willst mir den entwenden?
106 Wahr ist's, was ewig ist, erbeutest du
Nur durch ein Thränlein, daß ihn mir entzogen,  107
  Doch gönn' ich nun dem Andern keine Ruh'."
109 Du weißt, wenn feuchten Dunst emporgesogen  109
Die Sonne hat, so stürzt er, wenn ihn dann
Die Kälte faßt, zurück in Regenwogen.
112 Zum Willen nun, der stets nur Böses sann112
Fügt' er Verstand, und Rauch und Sturm erregte
Die Kraft in ihm, die sie erregen kann.
115 Als drauf der Tag erloschen war, belegte
Er Pratomagno's Thal mit schwarzem Duft,
Der vom Gebirg sich drohend her bewegte.
118 Zu Fluten wurde nun die schwangre Luft,
Zum Strombett rann, was von den Regengüssen
Der Grund nicht trank, hervor aus Thal und Kluft.
121 Der Archian, gleich andern großen Flüssen,
Ergoß zum Königsstrom den Sturmeslauf,  122
Dem Fels und Baum zertrümmert weichen müssen.
124 Wie nun den starren Leib, nicht weit herauf,
Von seiner Mündung, jene Flut gefunden,
Da lös'te sie das Kreuz am Busen auf,  126
127 Das ich gemacht, da Schmerz mich überwunden,
Und wirbelte zum Strom die träge Last.
Dort liegt sie nun im Grund, vom Schlamm umwunden."
130 Als drauf der dritte Geist das Wort gefaßt,
Sprach er: "Wenn du zur Welt zurückgekommen,
Erst ausgeruht vom langen Wege hast,
133 So laß dein Hiersein auch der Pia frommen.  133
  Siena gebar, Maremma tilgte mich.
  Und Er, von dem ich einst den Ring bekommen,
136 Der Treue Pfand, Er weiß, wie ich erblich."

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Sechster Gesang

Erläuterungen:

5 Wir werden daraus, daß der Schatten des Dichters linker Hand ist, erkennen, daß er nach Westen geht, da die Sonne von Norden her leuchtet. Auch in solchen Dingen zeigt der Dichter die größte Genauigkeit, so daß wir immer durch ähnliche kleine Andeutungen die Richtung des Weges sicher zu wissen im Stande sind.

10 Wiederholung der Erinnerung, daß ein bedeutendes Ziel fest im Auge behalten und nicht durch zerstreuende Aufmerksamkeit auf minder Bedeutendes das Streben darnach geschwächt und unterbrochen werden müsse.

36 Sie wissen genug, um froh zu sein, weil Dante, ein Lebender, bei der Rückkehr zu den Lebenden ihren Verwandten und Freunden von ihrem Schicksale Nachricht geben und sie bitten konnte, durch gläubiges Gebet ihr Harren vor der Pforte des Fegefeuers abzukürzen.

46 Den irdischen Leib, nicht den Scheinleib, welcher erst nach dem Tode die Seelen umgiebt.

51 Wir sehen, daß Dante Virgils Ermahnung, sich nicht aufzuhalten, zu befolgen sich bemüht.

68 Der Schatten, der hier spricht, ist Jacob del Cassero, Bürger von Fano, welchen der Markgraf Azzo der Dritte von Este bei Oriaco im Paduanischen ermorden ließ, indem er nach Mailand reisen wollte, um dort die Stelle des Podesta anzutreten. Er hatte sich als Podesta von Bologna dem Azzo, der immer weiter um sich griff, entgegengesetzt, den Abfall desselben von der Partei der Ghibellinen auf das Härteste getadelt und sich dadurch dessen Haß zugezogen.

80 Mira, ein Ort im Paduanischen.

88 Buonconte, Sohn des Guido von Montefeltro, ein Ghibellin, blieb in der Ebene vom Campaldino, in welcher seine Partei von den Guelfen geschlagen ward. Sein Leichnam ward nirgends gefunden, daher hier die Dichtkunst entdeckt, was der Geschichte verborgen blieb. Johanna, Buonconte's Gattin, soll durch den Dichter von dem Schicksale des Gemahls unterrichtet werden, um durch Gebet sein Harren vor der Pforte des Fegefuers abzukürzen.

95 Der Archiano verliert seinen Namen, indem er sich mit dem Arno vereinigt.

107 Hier, wie überall, spricht sich der Glaube aus, daß nur diejenigen verdammt werden, welche der Tod als verstockte Sünder ohne Reue überrrascht, Reue aber und Vertrauen auf Gnade, wenn auch nur im Augenblicke des Todes empfunden, den höchsten Richter versöhnt.

109 Der Dichter folgt hier der Physik des Aristoteles, nach welcher die Dünste, wenn sie bis zur Region der Kälte emporgekommen, sich verdichten und als Regen oder Schnee herabfallen.

112 Den bösen Geistern ist es, nach dem Volksglauben, gestattet, Stürme und andere Naturerscheinungen zu erregen.

122 Zum Königsstrom, dem Arno.

126 Der Sterbende hatte, nach Dante's Dichtung, die Arme in Form eines Kreuzes, zum Zeichen seiner Reue über den Busen gelegt. Dieses ihm verhaßte Zeichen ließ der Teufel durch die Fluten auflösen.

133 Pia, die Gemahlin des Nello della Pietra, in Siena geboren, wurde, wie man glaubt, von ihrem Gatten im Ehebruch betroffen, in die Maremma, welcher er als Obrigkeit vorstand, geführt und dort heimlich getödtet. Der Dichter spricht am Schlusse des Gesangs seine Ueberzeugung von dieser That aus, die man im Volke nur vermuthete.