Uebersicht   

Das Paradies.

Neunzehnter Gesang.

1 Vor mir erschien mit offnem Flügelpaar
  Das schöne Bild, wo, selig im Vereine,
  Der Geister lichter Kranz verflochten war.
4 Jedweder war wie ein Rubin, vom Scheine
  Der Sonne so in Licht und Glut entbrannt,
  Als ob sie selbst mir in die Augen scheine.
7 Der Schilderung, zu der ich mich gewandt,
  Wie kann die Sprache sie, die Feder wagen,
  Da Phantasie dergleichen nie erkannt? -
10 Ich sah den Aar und hört' ihn Worte sagen,
  Und in der Stimm' erklangen Ich und Mein,
  Als Wir und Unser ihm im Sinne lagen.  10-12
13 Er sprach: Für frommes und gerechtes Sein
  Sollt' ich zu dieser Glorie mich erheben,
  Die jeden Wunsch uns zeigt als arm und klein.
16 Und solch Gedächtniß ließ ich dort im Leben,
  Daß es für rühmlich selbst den Bösen gilt,
  Die nicht auf meiner Spur zu wandeln streben."
19 Wie vielen Kohlen eine Glut entquillt,
  So tönte jetzt von vielen Liebesgluten
  Ein einz'ger Ton mir zu aus jenem Bild.
22 ""Ihr ew'gen Blüthen des endlosen Guten,""
  Begann ich, ""die Ihr mir als einen jetzt
  Laßt eure Wohlgerüch' entgegenfluten,
25 Ich bitt' euch nun, mit eurem Hauch ergetzt
  Mich Hungrigen, und reicht mir jene Speise,
  Mit welcher mich die Erde nie geletzt.
28 Wohl weiß ich, spiegelt sich in anderm Kreise  28
  Des Himmels ab des Herrn Gerechtigkeit,
  Daß sie sich euch nicht unterm Schleier weise.
31 Ihr wißt, zum Hören bin ich schon bereit,
  Auch wißt ihr, welch ein Zweifel mich befangen,
  Der unbefriedigt ist seit langer Zeit.""
34 Gleichwie ein edler Falk', der Kapp' entgangen,
  Das Haupt bewegt, sich schön und freudig macht,
  Stolz mit den Flügeln schlägt und zeigt Verlangen,
37 So machte sich des hohen Zeichens Pracht,
  Das Gottes Gnade laut dem All verkündet,
  Mit Sang, wie der nur hört, der dort erwacht.
40 Und es begann: "Er, der die Welt gegründet,
  Und sie begränzt, hat viel Geheimes drin
  Und Offenbares viel darin begründet;
43 Doch hat er seine Kraft vom Anbeginn
  Nicht völlig ausgeprägt im Weltenalle,
  Denn endlos überragt's sein hoher Sinn.
46 Der erste Stolze, welcher höh'r als alle  46
  Geschöpfe stand, sank drum im frevlen Zwist,
  Des Lichts nicht harrend, früh in jähem Falle.
49 Denn jegliches der kleinern Wesen ist   49
  Zu eng, um jenes Gut darein zu bringen,
  Das, endlos, sich nur mit sich selber mißt,
52 Drum kann so weit der Menschenblick nicht dringen;
  Er, nur ein Strahl, von jenes Geistes Schein,
  Der Urstoff ist und Grund von allen Dingen,
55 Kann nie durch eigne Kraft so mächtig sein,
  Um seinen Ursprung deutlich zu ersehen,
  Denn Nebel hüllt für ihn so Tiefes ein;
58 Drob zu der Ungerechtigkeit das Spähen
  Des Menschenblicks sich nur so weit erstreckt,
  Als in den Grund des Meers die Augen gehen.
61 Leicht wird der Grund am Strand vom Aug' entdeckt,
  Doch nie im Meer, wie sehr sich's müh' und übe;
  Grund ist dort, doch zu tief, und drum versteckt.
64 Nur aus der Heiterkeit, die nimmer trübe,  64
  Kommt Licht - all' Andres ist nur Dunkelheit,
  Ist Schatten oder Gift der Fleischestriebe.
67 Sieh das Versteck, das die Gerechtigkeit
  Dir lang verhelt, jetzt offen dem Verstande,
  Und ruhn wird nun in dir der Zweifel Streit.
70 Erzeugt wird Jemand an des Indus Strande,
  So sprachst du, doch wer spricht von Jesus Christ?
  Wer liest und schreibt von ihm in jenem Lande?
73 Wenn er, so weit es die Vernunft ermißt,
  In That und Willen rein und unverdorben,
  Und ohne Sünd' in Wort und Leben ist.
76 Und er ungläubig, ungetauft gestorben,
  Wo ist dann wohl ein Recht, dem er verfällt?
  Wo Schuld, daß er den Glauben nicht erworben? -
79 Und wer bist du, der sich so hoch gestellt,
  Um, richtend, tausend Meilen weit zu springen,
  Da eine Spanne kaum dein Blick enthält?
82 Gewiß, daß die mir nach im Forschen ringen,  82
  Wär' über euch nicht Gottes heil'ges Wort,
  Zum Zweifel und Erstaunen Grund empfingen.
85 O Thier' aus Erd'! ihr groben Geister dort!
  Der erste Wille, gut von selber, gehet
  Nie aus sich selbst, dem höchsten Gute, fort. 86-87
88 Gerecht ist, was mit ihm in Einklang stehet.
  Ihn kann nicht anziehn ein erschaffnes Gut, 89
  Das nur aus Seiner Strahlenfüll' entstehet," -
91 Wie über ihrem Nest die Störchin thut,
  Wenn sie die Brut gespeist, im Kreise schwebend,
  Und wie nach ihr hinschaut die satte Brut;
94 So that - und so auch ich, das Aug' erhebend,  94
  Das heil'ge Bild, das seine Flügel schwang,
Den Willen kund der freud'gen Schaaren gebend,
97 Indem's, im Kreis sich schwingend, also sang:
  "So wie du nicht verstehst, was ich verkündet,
  So kennt ihr nicht des ew'gen Urtheils Gang."
100 Dann, noch im Zeichen, das den Ruhm gegründet  100
Der Römer hat, stand still die sel'ge Schaar,
Von lichter Glut des heil'gen Geist's entzündet.
103 "In dieses Reich," begann aufs Neu' der Aar, 103
  "Stieg Keiner je, der nicht geglaubt an Christus,
Vor oder nach, als er gekreuzigt war.
106 Doch siehe, Viele rufen Christus! Christus!
Und stehn ihm ferner einst beim Weltgericht,  107
Als Jene, welche nichts gewußt von Christus.
109 Das Strafurtheil für solche Christen spricht
Der Heid' einst aus, wenn sich die Schaaren trennen,
Die zu der ew'gen Nacht und die zum Licht.
112 Wie wird ein Perser eure Fürsten nennen,  112
Zeigt ihm sich aufgeschlagen jenes Buch,
In dem er ihre Schmach wird lesen können?
115 Die That des Albrecht wird mit hartem Spruch  115
Er in dem Buch dann eingetragen sehen,
Ob der ihn trifft des Böhmer-Reiches Fluch.
118 Auch Frankreichs Schmerz wird aufgezeichnet stehen,  118
In den es durch den Münzverfälscher fällt,
Der durch des Ebers Stoß wird untergehen.
121 Dort steht der Stolz, der Durst nach Land und Geld,  121
Drob' Schott und Engeländer thun, gleich Tollen,
Und Keiner sich in seiner Gränze hält.
124 Dort wird die Ueppigkeit sich zeigen sollen  124
Des Spaniers und des Böhmen, welcher nie
Die Trefflichkeit gekannt, noch kennen wollen.
127 Dort, Lahmer von Jerusalem, dort sieh  127
Mit einem M bezeichnet deine Sünden,
Und deine Tugenden mit einem I.
130 Dort wird sich auch der niedre Geiz verkünden
Deß, der dort herrschet, wo Anchises ruht
Nach langer Fahrt bei Aetna's Feuerschlünden.
133 Und wie gering er ist an Kraft und Muth,
Das wird die abgekürzte Schrift bezeugen,
Die Vieles kund auf engem Raume thut.  130-135
136 Auch wird das schmutz'ge Thun des Ohms sich zeigen,
Und das des Bruders kund sein überall,
Die mit dem edlem Stamm zwei Kronen beugen.  136-138
139 Auch den von Norweg', den von Portugal
Und den von Rascia wird man unterscheiden,
Der Schuld ist an Venedigs Münz-Verfall139-141
142 Mö'g Ungarn fernerhin nicht Unbill leiden142
Navarra, es vertheidige getrost 143
Die Bergesreih'n, die es von Frankreich scheiden!
145 Und Nicosio ist und Famagost  145
Vorläufig und als Angeld, sehr mit Fuge,
Wie Jeder zugiebt, auf ihr Vieh erboßt,
148 Das mit dem andern geht in gleichem Zuge."

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Zwanzigster Gesang

Erläuterungen:

10-12 Der Adler spricht als ein Wesen, aber in seinen Worten drückt sich der Wille aller der Geister aus, aus deren Glanz das Bild zusammengesetzt ist. Hierdurch erklärt sich auch leicht der Inhalt der V. 19-24.

28 Schon in allen anderen Himmeln erschauen die Seligen Gottes Gerechtigkeit. Um so weniger kann sie in diesem Kreise, von welchem aus die Gerechtigkeit auf Erden entwickelt wird, (s. Ges. 18 V. 115), den Blicken der seligen Seelen verschleiert sein.

46 Der erste Stolze, Lucifer, war Gott ungehorsam, da er mit der Einsicht, die Gott ihm verliehen, nicht zufrieden war, und wurde darum zur Hölle hinabgestürzt.

49 Kein kleineres Wesen (Gott, dem höchsten Wesen, entgegengesetzt) kann Gott fassen, da er nur in sich selbst für sich den Maßstab hat.

64 Obgleich, wie bis hieher auseinandergesetzt ist, dem erschaffenen Geiste von Gott nicht gestattet worden, ihn in seinen Tiefen zu erkennen, sondern nur ihn in den uns am nächsten liegenden Aeußerungen seiner Macht und Weisheit zu ahnen, so kommt doch alles Licht nur von Gott selbst. Was die Vernunft ergrübelt, und aus den Wahrnehmungen der oft verführten Sinne folgert, ist nur Dunkelheit.

82 Wollte der Mensch jene Tiefen so erforschen, wie es schon den Seligen erlaubt ist, obwohl auch diese so wenig, als sonst irgend ein erschaffenes Wesen, Gott ganz zu ergründen vermögen, so würde er zu Zweifeln große Veranlassung finden. Dieser überhebt ihn die heilige Schrift, wenn er ohne unnützes Grübeln an das glaubt, was sie offenbart.

86-87 Der erste Wille, Gott, gut von sich selbst, wird seiner Güte nie untreu.  

89 Alles, außer Gott, ist von ihm erschaffen. Das Erschaffene kann aber den Schöpfer nicht anziehen, nicht seinen Willen ändern, folglich ist's unmöglich, daß sein Wille, gut und gerecht in sich selbst, durch ein erschaffenes Wesen, aus Liebe oder Haß gegen selbiges, ungerecht werde.

94 So that das heilige Bild, und so that auch ich, das Aug' erhebend. Im Original ist der Text getrennt, wie in der Uebersetzung.

100 Dann noch im Zeichen etc., noch immer durch ihr Licht den Adler bildend.

103 Hier thut der Dichter dasjenige kund, was er über die Gerechtigkeit Gottes in Beziehung auf die Seligkeit der Nicht-Christen glaubt. Nur wer vor oder nach Christus an ihn geglaubt hat, wird selig. Aber wir finden im nächsten Gesange einen Heiden, den die Dichtung lange vor Christo leben ließ, und der nie etwas von dem künftigen Messias gehört haben konnte. Er ist selig, weil er standhaft das Recht geliebt hat, und deshalb von Gott, dessen Gnade so unergründlich wie seine Gerechtigkeit, zum Glauben an die künftige Erlösung geführt worden ist. Trajan, welcher nach Christo gelebt, ohne an ihn zu glauben, befindet sich ebenfalls hier, ob seiner Gerechtigkeit, durch ein Wunder, das Gott an ihm verrichtete. Hieraus scheint sich folgende Ansicht des Dichters über diesen Gegenstand zu ergeben: "Dem Heiden, der, ohne zur Religion Christi sich zu bekennen, an ihn, d. h. an den Gott im Menschen, glaubt und durch jenen, ungeachtet der irdischen Mängel, sich jenseits zur Vollendung zu erheben hofft; dessen Glaube, wie der Baum die Frucht, die guten Werke hervorbringt - dieser Heide darf hoffen, durch Christum zur Seligkeit einzugehen. Ja er ist deren sicherer, als die Christen, deren Werke nicht vom Glauben Zeugniß geben."

107 Einst beim Weltgericht, wenn die Guten und Bösen gesondert werden, wird durch die Heiden, die, weil sie gerecht gelebt, zur Seligkeit gelangen, die Ursache kund gegeben werden, aus welcher ungerechte Christen verdammt sind.

112 Jenes Buch, in welchem Gott ihre Sünden verzeichnet hat - die Weltgeschichte ist das Weltgericht.

115 Unter den vielen tadelnswerthen und verunglückten Unternehmungen Albrechts des Ersten wählt der Dichter dessen Einfall in Böhmen (1303) aus. Nachdem Wenzel der Vierte 1305 gestorben war, wurde im nächsten Jahre sein Sohn ermordet, und Albrecht suchte ganz Böhmen an sein Haus zu bringen, indem er seinen Sohn Rudolph mit Wenzels des Vierten Wittwe vermählte.

118 Philipp der Schöne ließ in seinen Finanzverlegenheiten falsche Münzen schlagen. Er starb auf der Jagd, weil sein Pferd durch den Stoß eines Ebers stürzte.

121 Die langwierigen Kriege zwischen England und Schottland, und der wüthende Nationalhaß zwischen beiden Völkern in den älteren Zeiten sind bekannt. Hier sind wahrscheinlich die Kämpfe zwischen Eduard dem Ersten und Robert Bruce im Anfange des vierzehnten Jahrhunderts gemeint.

124 Rüge der Weichlichkeit und Untüchtigkeit der Könige Alphons und Wenzel.

127 Karl der Lahme von Neapel und Jerusalem. Seine Laster werden mit einem M (der Zahl 1000), seine Tugenden mit einem I (der Zahl 1) bezeichnet.

130-135 Friedrich, Sohn Peters von Arragonien, König von Sicilien, wo, nach Virgil, Anchises begraben wurde. Seine schlechten Thaten werden, um nicht zu viel Platz einzunehmen, mit Abbreviaturen aufgezeichnet stehen.

136-138 Jacob, König von Majorka und Minorka, der Oheim - Jacob, König von Arragonien, der Bruder Friedrichs. Durch sie werden zwei Kronen und ihr edles Geschlecht herabgewürdigt.

139-141 Wer der hier gemeinte König von Norwegen sei, findet sich nicht angegeben. Der von Portugal ist wahrscheinlich Dionysius Agricola, der zu des Dichters Zeit regierte. Der von Rascia (Dalmatien) ist unbekannt.

142 Die ungarische Geschichte jener Zeit erzählt mancherlei Unglück, das den Staat betroffen.

143 Navarra, von Frankreich unterjocht, wird aufgefordert, seine Gränzen, die Pyrenäen, besser zu vertheidigen.

145 In Cypern, das hier durch seine beiden größten Städte bezeichnet wird, regierte damals Heinrich II. Ihm wird angekündigt, daß der öffentliche Unwille nur ein Angeld, eine Abschlagszahlung sei, und das bald Schlimmeres erfolgen werde.