Uebersicht

Das Paradies.

Eilfter Gesang.

1 O menschliche Begier voll Wahn und Trug,
Wie mangelhaft sind doch die Syllogismen,
Die dir herabziehn des Gefieders Flug!
4 Der ging dem Jus nach, der den Aphorismen;  4
Der sucht' als Priester Ehren und Gewinn;
Der herrschte durch Gewalt, der durch Sophismen;
7 Der stahl, dem stand auf ein Gewerb der Sinn;
Der mühte sich, in Fleischeslust befangen,
Und Jener gab dem Müßiggang sich hin;
10 Indeß ich, allem diesem Tand entgangen,
Im Himmel oben mit Beatrix war,
So herrlich und so ruhmvoll dort empfangen.
13 Still stand nun Jeder von der sel'gen Schaar,
Im Kreis zurückgekehrt zur ersten Stelle,
Und stellte sich, wie Licht auf Leuchtern, dar.
16 Da schien es mir, aus jenem Schimmer quelle,  16
Der mich zuerst gesprochen, neuer Laut,
Und lächelnd sprach er dann in rein'rer Helle:
19 "Wie, wenn ins ew'ge Licht mein Auge schaut,
Mich dieses ganz mit seinem Strahl entzündet,
So ist mir deines Denkens Grund vertraut.
22 Du zweifelst noch, und hörtest gern verkündet
In offnen Worten, und verständlich breit,
So, daß sie deine Fassungskraft ergründet,
25 Was wohl mein ob'ges Wort, Wo wohl gedeiht: -  25-26
Und dann: Kein Zweiter kam ihm gleich - bedeutet.
Und hier ist nöthig scharfer Unterscheid.
28 Die ew'ge Vorsicht, die das Weltall leitet,
Mit jener Weisheit, die in Tiefen ruht,
Zu welchen kein erschaffnes Auge gleitet,
31 Damit sich dem Geliebten ihre Glut,
Die Glut der Braut, die er mit lautem Schreie  32
Sich anverwählt hat durch sein heil'ges Blut,
34 Sich'rer in sich, und ihm getreuer, weihe,
Hat, ihr zur Gunst, zwei Fürsten ihr bestallt,  35
Und hier und dorten führen sie die Zweie.  
37 Der eine war von Seraphsglut umwallt,  37
Der Andre zeigt' im Glanz der Cherubinen  38
Die Weisheit dort im ird'schen Aufenthalt.
40 Von Einem, sprech' ich, weil, wen man von ihnen
Auch preisen mag, man nie vom Andern schweigt,
Da Beide wirkten, Einem Zweck zu dienen.
42 Beim Bach, der von Ubaldo's Hügel steigt,
Und dem Tupino, hebt sich, zwischen beiden,  43 ff.
Ein Berg, deß Abhang fruchtbar grün sich neigt.
46 Von ihm muß Hitz' und Frost Perugia leiden,
Und hinter diesem Berg liegt Gualdo dicht,
Und fühlt mit Nocera des Joches Leiden.
49 Dort, wo sich seines Abhangs Jähe bricht,
Dort sah man einer Sonne Glanz entbrennen,
Gleich der am Ganges klar im heil'gen Licht.
52 Nicht möge man den Ort Ascesi nennen,
Denn wenig sagt, wer also ihn benannt:
Nein, was er war, giebt Orient zu erkennen.
55 Schon als der Glanz nicht fern dem Aufgang stand,  55
Begann er solche Kraft zu offenbaren,
Daß sich dadurch erquickt die Erde fand.
58 Denn mit dem Vater stritt er, jung an Jahren,
Für eine Frau, vor der der Freuden Thor
Die Menschen fest, wie vor dem Tod, verwahren,
61 Bis vor dem geistlichen Gericht und vor
Dem Vater sie zur Gattin er sich wählte,
Und täglich lieber hielt, was er beschwor.  58-63
64 Sie, deß beraubt, der sich ihr erst vermählte,  64
Blieb ganz verschmäht mehr als eilfhundert Jahr,
Da, bis zu diesem, ihr der Freier fehlte.
67 Obgleich durch sie Amiclas in Gefahr  67
So sicher ruht' als dessen Stimm' erklungen,
Des Mächt'gen, der der Erd' ein Schrecken war;
70 Obgleich sie standhaft, kühn und unbezwungen,  70
Als selbst Maria unten blieb, sich dort,
An Christi Kreuz, zu ihm emporgeschwungen.
73 Allein nicht mehr in Räthseln red' ich fort:
Franziskus und die Armuth sieh in ihnen,
Die dir geschildert hat mein breites Wort.
76 Der Gatten Eintracht, ihre frohe Mienen
Und Lieb' und Wunder, und der süße Blick
Erweckten heil'gen Sinn, wo sie erschienen.
79 Und solchem Frieden eilte, solchem Glück
Barfuß erst Bernhard nach, der Ehrenwerthe,
Und glaubte doch, er bleibe träg zurück.
82 O neuer Reichtum! Gut vom echtem Werthe!
Egid, Sylvester folgten bald dem Mann
Barfuß, weil hoher Reiz die Frau verklärte.  80-84
85 Der Vater und der Meister ging sodann
Nach Rom mit seiner Frau und mit den Seinen,
Die schon des niedern Strickes Band umspann,
88 Nicht feig sich beugend sah man ihn erscheinen,
Als Peter Bernadone's niedrer Sohn,
Mocht' er auch ärmlich und verächtlich scheinen,
91 Nein, kund that er vor Innocenzens Thron
Den strengsten Plan mit königlicher Würde,
Und der besiegelte die Stiftung schon.
94 Dann, als die Schaar der Armen in der Hürde
Des Hirten wuchs, deß Wunderleben hier,
Im Himmelsglanz, man besser singen würde,  96
97 Verlieh der frommen heiligen Begier,
Auf Gottes Eingebung, zum Eigenthume
Honorius der zweiten Krone Zier.  85 - 99
100 Dann predigend, aus Durst und Märtyrthume,
Kühn in des stolzen Sultans Gegenwart,
Von Christi und von seiner Folger Ruhme.
103 Fand zur Bekehrung er das Volk zu hart,
Drob, da ihm hier sein edles Werk nicht glückte,
Von ihm bebaut Italiens Garten ward.  100-105
106 Und auf Averna's Felsenhöhen drückte  106
Das letzte Siegel noch ihm Christus ein,
  Das dann zwei Jahre seine Glieder schmückte.
109 Als der, der ihn berufen, aus der Pein
Zur Wonn' ihn rief, den Lohn hier zu erwerben,
Daß er sein Knecht war, niedrig, arm und klein,
112 Empfahl er noch, als seinen rechten Erben,
Den Brüdern seine Frau, ihm lieb und werth,  113
Zu treuer Lieb' im Leben und im Sterben.
115 Eh' ihrem Schooß die Seele, schon verklärt,  115
Entfloh, heimkehrend zu des Vaters Reiche,
Ward nur die Erd' als Sarg von ihm begehrt,
118 Jetzt denke selbst, wer dem an Würde gleiche,  118
Der, sein Genoß, durch's Meer führt Petri Kahn,
Daß er auf gradem Weg das Ziel erreiche.  119
121 Dies Amt hatt' unser Patriarch empfahn,
Und gute Waare trägt auf seiner Reise,
Wer treu ihm folgt auf der befohl'nen Bahn.
124 Doch seine Heerd' ist jetzt nach neuer Speise  124
So lüstern, daß sie üppig hüpft und springt,
Und sich zerstreut und irrt vom rechten Gleise.
127 Je weiter hin der Schäflein Heerde dringt,
Dem Hirten fern, sich irrend zu zerstreuen,
Je minder Milch zum Stalle jedes bringt.
130 Wohl giebt's noch welche, die den Schaden scheuen,
Die folgen, angedrängt dem Hirten, nach,
Doch wenig Tuch giebt Kutten diesen Treuen.
133 Jetzt aber, war mein Wort nicht trüb und schwach,
  Verblieb dein Ohr aufmerksam meinen Lehren,
  Rufst du zurück dem Geiste, was ich sprach,
136 Dann wird's Befried'gung deinem Wunsch gewähren,
Dann zeigt der Baum, von dem ich pflückte, sich,
Und meines Tadels Grund wird sich erklären:
139 Wo wohl gedeiht, wer nicht dem Wahne wich."

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Zwölfter Gesang

Erläuterungen:

4 Der Uebersetzer hat hier ein lateinisches Wort gebraucht, weil es allgemein bekannt ist, und weil es, übersetzt, eine ganz falsche Bedeutung erhalten haben würde. Denn dem Recht nachgehen, ist nie eine tadelnswerthe Bestrebung. Aber man sagt denen, welche der Rechtgelehrsamkeit nachgehen, es nach, daß nicht immer das Recht ihr Ziel sei; und diese tadelt hier der Dichter.

 Aphorismen, die des Hippokrates.

16 Aus jenem Schimmer, dem heiligen Thomas von Aquino.

25-26 S. V. 96 und 113 im vorigen Gesange.

32 Die Glut der Braut, der Kirche, die Christus sterbend sich vermählt hat.

35 Zwei Fürsten, wie wir bald sehen werden, der heil. Franziskus von Assisi und der heil. Dominikus.

37 Von Seraphsglut, von den Flammen der himmlischen Liebe.

38 Im Glanz der Cherubinen, der Engel, in welchen die himmlische Weisheit strahlt.

43 ff. Der heilige Thomas von Aquino, der Dominikaner, beschreibt hier das Leben des heiligen Franziskus. Dieser letztere Heilige ist nicht nur als Stifter des von ihm benannten Ordens, welcher bekanntlich alles Eigenthum verschmähen und sich ganz der Armuth hingeben soll, bemerkenswerth, sondern auch als Dichter. Eine auch in Deutschland durch eine treffliche Uebersetzung vom Rathe Schlosser bekannt gewordene Sonnenhymne athmet die feurigste Inbrunst der Frömmigkeit. Sie strömt in freiem Rhytmus, aber im schönsten Wohllaut dahin. Auch einige andere, dem Uebersetzer bekannt gewordene Verse desselben sind von schöner Form, und merkwürdig als eins der ersten Denkmale des italienischen Volks-Idioms, da der Heilige im Jahre 1172 geboren wurde. S. Proposta di alcune correzioni ed aggiunte al vocabolario della Crusca. Vol. II. P. II. Milano 1820. S. 227 ff.
In den oben bezeichneten Versen ist die Lage von Assisi, des Geburtsort des Heiligen, zwölf Miglien von Perugia entfernt, beschrieben. Der Berg, an welchem Assisi, vom Dichter Ascesi genannt, liegt, macht, daß wenn er mit Schnee bedeckt ist, und der Wind von ihm herweht, Perugia durch Kälte, wenn aber die Sonnenstrahlen von ihm zurückprallen, durch Hitze leidet. Gualdo und Nocera waren der Stadt Perugia unterworfen und von ihr mit schweren Auflagen bedrückt.

55 Als Franziskus, früher als Sonne bezeichnet, noch jung war.

58 - 63 Für eine Frau, für die Armuth. - Sein Vater, Peter Bernadone, nach Einigen ein Kaufmann, nach Andern ein Metzger, schlug ihn und sperrte ihn ein, weil er alles Geld verschenkte und darauf bestand, sich der Armuth zu widmen. Aber der innere Beruf des Sohnes war stärker als der Zwang des Vaters, und der Letztere war selbst gegenwärtig, als Jener vor dem Bischof von Assisi und seinem Kapitel das Gelübde der Armuth ablegte.

64 Des Heilands, der ebenfalls irdische Güter verschmähte.

67 Amiclas, ein armer Fischer, schlief, wie Lucan in den Pharsalien erzählt, ruhig und ohne sich um den Krieg in seiner Nähe zu kümmern, in seiner Hütte, als Cäsar in einem Ungewitter bei ihm ein Obdach suchte.

70 Die Armuth blieb Christo, als er ans Kreuz geschlagen ward, treu, und folgte ihm mit dem Frieden, welchen sie giebt, selbst dahin, wohin Maria ihm nicht folgen konnte.

80-84 Bernhard von Quintavalle, dann Egid und Sylvester, waren die ersten Nachfolger des heiligen Franziskus. In dessen Ordensregel war es vorgeschrieben, barfuß und in ärmlichem, durch einen Strick zusammengehaltenem Gewande zu gehen, und sich ganz nach den Vorschriften zu richten, welche im neuen Testamente, Matth. Kap. 10 V. 10 und Kap. 19 V. 21 ff. Luc. Kap 22 V. 35 und 1. Tim. Kap 6 V. 8, enthalten sind.

96 Hier man besser singen würde, als es auf Erden seine oft unwürdigen, nicht in seinem Geiste lebenden Nachfolger thun.

85-99 Obgleich in Rom vor Kurzem erst die Regel festgestellt worden war, daß die Mönchsorden nicht vermehrt werden sollten, so fand sich doch Papst Innocenz III. durch die feste Beharrlichkeit des Mannes und seine wunderbare Persönlichkeit, nicht minder, wie versichert wird, durch nächtliche Erscheinungen, welche den Franziskaner-Orden als eine Stütze der Kirche zeigten, bewogen, dem heiligen Franz eine so günstige Antwort zu geben, daß dieser der Erreichung seines Zweckes näher treten konnte. Die feierliche Bestätigung des Ordens erfolgte aber erst von Honorius III. im Jahre 1223.

100-105 Franz pilgerte, seine Lehren predigend, durch mehrere europäische Länder, und endlich zum Sultan von Aegypten, welchem er aber vergeblich predigte, daher er nach Italien zurückkehrte.

106 Auf einem Felsen nahe bei Chiusi soll Christus dem heiligen Franziskus seine Wundenmaale eingeprägt und dadurch dem Berufe desselben die letzte und eindringendste Bestätigung ertheilt haben, zwei Jahre nach diesem Wunder aber der Heilige gestorben sein.

113 Seine Frau, hier, wie im ganzen Gesange, die Armuth.

115 Er befahl sterbend seinen Anhängern, seinen Leichnam ohne Sarg auf der Grabstätte der hingerichteten Verbrecher einzuscharren.

118 Der heilige Dominicus, von welchem im folgenden Gesange die Rede sein wird, ist der hier bezeichnete Genoß des heiligen Franz, der zweite der zum Schutze der Kirche bestellten Fürsten. S. V. 35.

119 Petri Kahn, die Kirche.

124 Nachdem Thomas von Aquino, der Dominikaner, das Leben und die Gesinnung des heiligen Franz, welcher mit dem heiligen Dominik denselben Zweck verfolgte, geschildert hat, zeigt er in den folgenden Versen, wie sehr die meisten seiner Ordensbrüder sich von diesem Zwecke entfernen, und erklärt, den V. 96 des vorigen Gesanges erläuternd, daß auf dem vom Stifter vorgeschriebenen Wege nicht diese, sondern nur die Wenigen gedeihen, welche, ohne vom falschen Wahne verlockt zu werden, seinen Ansichten treu bleiben.