Das Paradies. |
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Vierter Gesang. |
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1 | Zwischen zwei Speisen, gleich entfernt und lockend, |
Ging hungrig wohl ein freier Mann zu Grund, | |
Nicht von der einen noch der andern brockend. | |
4 | So stünd' ein Lämmchen zwischen Schlund und Schlund |
Von zweien Wölfen fest, in gleichem Zagen, | |
So stünd' auch zwischen zweien Reh'n ein Hund, | |
7 | So ließ verschiedner Zweifel mich nicht fragen. |
Ich schwieg nur, weil ich mußt', und kann davon | |
Drum weder Gutes jetzt noch Böses sagen. | |
10 | Ich schwieg, doch ward mein Wunsch vom Antlitz schon |
Klar ausgedrückt und deutlicher vernommen, | |
Als hätt' ich ihn erklärt mit klarem Ton. | |
13 | Beatrix that wie Daniel, als entglommen 13 |
Nebucadnezar war in blinder Wuth, | |
Die deß Propheten Deutung ihm benommen. | |
16 | "Daß dich zwei Wünsche drängen, seh' ich gut," |
Begann sie, "die dich fesseln, so daß keiner | |
Von beiden sich nun kund nach außen thut. | |
19 | Du fragst: Bleibt unser Will' ein guter, reiner, |
Wie macht Gewaltthat Andrer dann den Werth | |
Und wie den Umfang des Verdienstes kleiner? | |
22 | Hiernächst auch zweifelst du, weil Plato lehrt, 22 ff. |
Daß, wie's ihm scheint, zu ihrem Sternenkreise | |
Die Seele von der Erde wiederkehrt. | |
25 | Die beiden Fragen lasten gleicherweise |
Auf deinem Willen noch, daher ich jetzt | |
Der schlimmern Meinung Falschheit erst beweise. | |
28 | Der Seraph, den der reinste Schimmer letzt, |
Moses und Samuel - die je heilig waren, | |
Ja, selbst Marien nenn' ich dir zuletzt, | |
31 | Sind nicht in anderm Himmel, als die Schaaren |
Der sel'gen Geister, die du jetzt gesehn, | |
Sind reicher nicht und ärmer nicht an Jahren. | |
34 | Die erste Sphäre machen Alle schön, |
Doch ist verschiedner Art ihr süßes Leben, | |
Wie mehr und minder Gottes Hauche wehn. | |
37 | Sie zeigten hier sich, nicht, weil ihnen eben |
Der Kreis zu Theil ward, nein, weil dies beweist, | |
Daß sie zum Höchsten minder sich erheben. | |
40 | So sprechen muß man ja zu eurem Geist, |
Den nur die Sinne zu dem Allen leiten, | |
Was die Vernunft sodann ihr eigen heißt. | |
43 | Drum läßt sich auch zu euren Fähigkeiten |
Die Schrift herab, wenn sie von Gott euch spricht, | |
Von Hand und Fuß, um Andres anzudeuten. | |
46 | Die Kirche zeigt mit menschlichem Gesicht, |
Gabriel' und Michael' und Raphaelen, | |
Der neu geklärt Tobias Augenlicht. | |
49 | Doch des Timäus Lehre von den Seelen |
Ist andrer Art. Er glaubt auch, was er lehrt, | |
Und scheint darin kein Sinnbild zu verhehlen. | |
52 | Daß sich zu ihrem Stern die Seele kehrt, |
Er spricht's, und glaubt, daß sie von dort gekommen, | |
Als die Natur sie uns zur Form gewährt. | |
55 | Allein wird dies nicht wörtlich angenommen, |
So kann er doch vielleicht mit dem Beweis | |
Dem Ziel der Wahrheit ziemlich nahe kommen, | |
58 | Dafern er meinte, daß aus jedem Kreis |
Das Gut' und Böse stamm', und deshalb lehrte, | |
Dem kehre Schimpf zurück, und Jenem Preis. | |
61 | Und dieser schlecht verstandne Satz verkehrte |
Fast alle Welt, so daß in Sternen man | |
Den Mars, Merkur und Jupiter verehrte. - | |
64 | Der andre Zweifel, welcher dich umspann, |
Hat mindres Gift, indem er nicht entrücken | |
Dich meinem Pfad durch seine Schlingen kann. | |
67 | Denn scheint auch ungerecht den Menschenblicken 67 |
Unsre Gerechtigkeit, nun, so beweist | |
Dies Glauben nur, nicht ketzerische Tücken. | |
70 | Allein wohl fähig ist des Menschen Geist, |
In diese Wahrheit tiefer einzudringen, | |
Drum will ich jetzt, daß du befriedigt seist. | |
73 | Ist das Gewalt, wenn jenen, welche zwingen, |
Der, welcher leidet, nie sich willig zeigt, | |
So kann sie Diesen nicht Entschuld'gung bringen. | |
76 | Weil Wille, der nicht will, sich nimmer neigt, |
Vielmehr, wie Feuer, wenn die Stürme schwellen, | |
Trotz allem Zwang neu in die Höhe steigt. | |
79 | Der Wille wird zu der Gewalt Gesellen, |
Wenn er sich beugt; drum fehlte jenes Paar, | |
Rückkehren könnend zu den heil'gen Zellen. | |
82 | Blieb jener Nonnen Will' unwandelbar, |
Wie auf dem Rost Laurentius geblieben, 83 | |
Wie Scävola, der streng der Rechten war, | |
85 | So hätt' er sie befreit zurückgetrieben |
Denselben Pfad, auf dem man sie entführt; | |
Doch selten sind, die solchen Willen lieben. | |
88 | Noch hättest du den Zweifel oft gespürt, |
Der jetzt gewiß vor meinem Wort geschwunden, | |
Wenn du wohl aufgemerkt, wie sich's gebührt. | |
91 | Doch hält ein andrer schon dein Aug' umwunden, |
Und gänzlich schwände deine Kraft dahin, | |
Eh' du dich selbst aus ihm herausgefunden. | |
94 | Ich legt' es als gewiß in deinen Sinn, 94 ff. |
Die Seele, die der ersten Wahrheit Pforten | |
Stets nahe bleibt, sei niemals Lügnerin, | |
97 | Doch nun erfuhrst du durch Piccarda dorten, |
Daß ihren Schlei'r Constanze nie vergaß, | |
Und dies scheint Widerspruch mit meinen Worten, | |
100 | Oft, Bruder, die Gefahr zu fliehn, geschah's, |
Daß sich ein Mensch, auch wider Willen dessen, | |
Was nimmer sich zu thun geziemt, vermaß. | |
103 | So hat Alkmäon, welcher sich vermessen 103 |
Des Muttermords, weil ihn sein Vater bat, | |
Die Sohnespflicht aus Sohnespflicht vergessen. | |
106 | Daraus erkennst du diese Wahrheit: hat |
Der Wille sich vermischt dem äußern Drange, | |
So liegt in ihm die Schuld der bösen That. | |
109 | Der unbedingte Wille trotzt dem Zwange, |
Doch stimmt in sofern bei, als der Gefahr | |
Er zagend weicht, vor größerm Schaden bange. | |
112 | Piccarda sprach, dies siehst du jetzo klar, |
Vom unbedingten Willen nur zum Guten, | |
Vom zweiten Ich, und Beider Wort ist wahr." | |
115 | So war das Wogen jener heil'gen Fluten 115 |
Dem Quell entströmt, dem Wahrheit nur entquillt, | |
Daß süß befriedigt meine Wünsche ruhten. | |
118 | ""Liebste des ersten Liebenden, o Bild 118 |
Der Gottheit,"" rief ich, ""deren Rede regnet, | |
Erwärmt und mehr und mehr belebt und stillt. | |
121 | O, wär mit Inbrunst doch mein Herz gesegnet |
Zum Dank, der gnügte deiner Huld - doch dir | |
Sei nur von Ihm, der sieht und kann, entgegnet. 123 | |
124 | Nie sättigt sich der Geist, dies seh' ich hier, |
Als in der Wahrheit Glanz, dem Quell des Lebens, | |
Die uns als Wahn zeigt Alles außer ihr. | |
127 | Doch fand er sie, dann ruht die Qual des Strebens, |
Und finden kann er sie, sonst wäre ja | |
Jedweder Wunsch der Menschenbrust vergebens. | |
130 | Dann läßt der Geist, wenn er die Wahrheit sah, 130 |
An ihrem Fuß den Zweifel Wurzel schlagen, | |
Und treibt von Höh'n zu Höh'n dem Höchsten nah'. | |
133 | Dies ladet nun mich ein, dies heißt mich wagen |
Nach einer andern dunkeln Wahrheit jetzt | |
Voll Ehrfurcht, hohe Herrin, euch zu fragen. | |
136 | Kann wohl der Mensch, der ein Gelübd' verletzt, |
Durch andres gutes Werk dies so vergüten, | |
Daß ihr's, nach eurer Waag', als gnügend schätzt?"" | |
139 | Sie sah mich an, und Liebesfunken sprühten |
Aus ihrem Aug' so göttlich klar hervor, | |
Daß ich, besiegt, sobald sie mir erglühten, | |
142 | Gesenkten Blicks mich selber fast verlor. |
Erläuterungen:
13 Nebucadnezar muthete seinen Sterndeutern und Weisen zu, ihm einen Traum zu deuten, den er selbst völlig vergessen hatte. Als sie dies nicht vermochten, und vor allen Dingen das Traumbild selbst von ihm zu erfahren wünschten, befahl er, sie alle zu tödten. Daniel aber, durch göttliche Offenbarung belehrt, verkündigte dem Könige den Traum, welchen dieser selbst nicht auszusprechen vermochte, und wandte dadurch die Vollstreckung des grausamen Befehls ab. Beatrice, die Zweifel errathend, die der Dichter nicht zu entwickeln vermag, gleicht hierin dem Daniel. 22ff. Im vorigen Gesange hat der Dichter erfahren, daß überall Paradies ist, wo Himmel ist, und daß sich die Seligen alle ewig in einem Paradiese befinden. Dies scheint dem zu widersprechen, was Platon im Timäus lehrt: daß die Seelen, ehe sie mit dem Körper bekleidet werden, sich in den Sternen befinden, und dahin zurückkehren, woher sie gekommen sind. Diesen Zweifel lös't Beatrix zuerst, weil er ihr gefährlicher, als der V. 19-21 angeführte scheint. Sie wiederholt, daß alle Geister, der des ersten Seraphs, wie der des letzten Seligen, in einem Himmel, zu Glück von gleicher ewiger Dauer bestimmt sind. Die Verschiedenheit ihres Schauens sei durch die verschiedenen Kreise angedeutet; dies aber sei nur ein Bild, wie deren auch die heilige Schrift mehrere zeige, um höhere Wahrheiten der Fassungskraft der Menschen näher zu bringen. 67 An Religionswahrheiten zweifeln, ist keine Ketzerei, denn der beseitigte Zweifel bestärkt nur im Glauben. Der Zweifel, ob in einem bestimmten Falle der Himmel wirklich gerecht sei, setzt den Glauben an die Gerechtigkeit überhaupt voraus. Unsere Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit Gottes, welcher, wie V. 45 des vorigen Gesanges gesagt ist, sein Gefolg gebildet will nach sich. 83 Der heilige Laurentius erlitt, auf einen Rost über Kohlen gelegt, standhaft den Märtyrertod. Mucius Scävola verbrannte sich freiwillig in Gegenwart des Königs der Etrusker, Porsenna, welcher Rom belagerte, über einem Kohlenfeuer die rechte Hand, als er, statt des Königs, dessen Schreiber ermordet hatte. Porsenna, erschreckt durch den Gedanken, daß er solche Feinde zu bekämpfen habe, deren mehrere ihn zu ermorden verschworen seien, hob die Belagerung auf. 94 ff. Diese V. beziehen sich auf V. 31 - 33 und V. 115 - 118 des vorigen Gesanges. 103 Alkmäon, s. Anm. zu Ges. 12 V. 49 des Fegefeurs. 115 Die Rede Beatricens, welche Gott schauend, Alles, was sie spricht, aus ihm entnimmt. 118 Der erste Liebende: Gott. 123 Gott der Allsehende und Allmächtige, belohne dich zur Entgegnung auf deine Rede. 130 Der Geist, der eine Wahrheit erkannt hat, entnimmt aus ihr neue Zweifel, durch welche er, indem er sie zu lösen sucht, immer höher emporstrebt zu dem, was allgemeine, höchste Wahrheit ist. |