Uebersicht

Die Hölle.

Einunddreißigster Gesang.

1 Dieselbe Zunge, die mich erst verletzte,  1
  Und beide Wangen überzog mit Roth,
  War's, die mich dann mit Arzeneien letzte.
4 So, hör' ich, hat der Speer Achills gedroht,
  Und seines Vaters, der mit einem Zücken
  Verletzt' und mit dem andern Hülfe bot.
7 Wir kehrten nun dem Jammerthal den Rücken,  7
  Den Damm durchschneidend, der es rings umlag,
  Um, schweigend, mehr nach innen vorzurücken.
10 Dort war's nicht völlig Nacht, nicht völlig Tag,
  Daher die Blicke wenig vorwärts gingen;
  Doch tönt' ein Horn. - Der stärkste Donner mag
13 Bei solchem Ton kaum hörbar noch erklingen. -
  Drum sucht' ich nur, entgegen dem Gebraus,
  Mit meinem Blick zu seinem Quell zu dringen.
16 Nicht tönte nach dem unglücksel'gen Straus,  16
  Der Karls des Großen heil'gen Plan vernichtet,
  Des Grafen Roland Horn mit solchem Graus.
19 Wie ich mein Auge nun dorthin gerichtet,
  Glaubt' ich viel hohe Thürme zu ersehn,
  Und sprach: ""Ist eine Feste dort errichtet?""
22 Mein Meister drauf: "Weil du zu weit zu spähn  22
  Versuchst in diesen nachterfüllten Räumen,
  Mußt du dich selber öfters hintergehn.
25 Dort siehst du, daß, wie oft, zu eitlen Träumen
  Aus der Entfernung das Geschaute schwoll,
  Drum schreite vorwärts ohne lang zu säumen."
28 Dann fast' er bei der Hand mich liebevoll,
  Und sprach: "Ich will dir die Bewandtniß sagen,
  Weil's nah dann minder seltsam scheinen soll.
31 Ob's Thürme wären, wolltest du mich fragen?
  Nein, Riesen sind's, die rings am Brunnenrand
  Vom Nabel aufwärts in die Lüfte ragen."
34 Wie wenn der Nebel fortzieht, der das Land
  In Dunst gehüllt, allmälig unsre Blicke
  Das klar erkennen, was er erst umwand;
37 So, bohrend durch die Luft, die trübe, dicke,
  Scheucht' ich den Wahn, genaht dem tiefen Schlund,
  Doch fühlte, daß mich neu die Furcht bestricke.
40 Wie um Montereggione's Zinnen-Rund  40
  Rings eine Krone hohe Thürme machen,
  So thürmten sich, mit halbem Leib im Grund,
43 Mit halbem Leib rings aus des Brunnens Rachen
  Giganten, Kämpfer jenes großen Streits,
  Sie, welchen nach die Donner Jovis krachen.
46 Von einem sah ich das Gesicht bereits,
  Und Schultern, Brust und großen Theil vom Bauche,
  Herabgestreckt die Arme beiderseits.
49 Wenn die Natur nicht mehr nach altem Brauche
  Dergleichen Wesen schafft, so thut sie recht,
  Damit nicht Mars sie mehr als Schergen brauche.
52 Schafft sie den Wallfisch auch und das Geschlecht
  Der Elephanten noch, doch sicher findet,
  Wer reiflich urtheilt, sie hierin gerecht,
55 Weil, wenn die Ueberlegung sie verbindet
  Mit bösem Willen und mit großer Macht,
  Jedwede Schutzwehr dann dem Volke schwindet.
58 Das Antlitz schien mir lang und ungeschlacht,
  Dem Thurmknopf von Sanct Peter zu vergleichen,  59
  Und jedes Glied nach solchem Maaß gemacht.
61 Es mochten wohl vom Strand, der von den Weichen
  Ihn abwärts barg, der oberen Gestalt
  Drei Friesen ausgestreckt nicht dahin reichen,  63
64 Wo seine Stirn das borst'ge Haar umwallt,
  Denn aufwärts maß er dreißig große Palmen,
  Bis zu dem Ort, wo man den Mantel schnallt,
67 "Raphegi mai amech itzabi Almen!"  67
  So tönt' es aus den dicken Lippen vor,
  Für die sich nicht geziemten sanftre Psalmen.
70 Mein Führer rief: "Nimm doch dein Horn, du Thor,  70
  Und magst du Zorn und andern Trieb empfinden,
  So sprudl' ihn flugs durch seinen Bauch hervor.
73 Du kannst an deinem Hals den Riemen finden,
  Verwirrter Geist, der's angebunden hält.
  Sieh doch ihn dort die dicke Brust umwinden!"
76 Darauf zu mir: "Sich selbst verklagt der Held;
  Der Nimrod ist's, durch dessen toll Vergehen
  Man nicht mehr eine Sprach' übt in der Welt.
79 Mit ihm ist nicht zu sprechen. Mag er stehen!
  Kein Mensch versteht von seiner Sprach' ein Wort
  Und er kann keines Andern Wort verstehen."
82 Wir gingen nun zur Linken weiter fort,
  Und fanden schon in Bogenschusses Weite
  Den zweiten, größern wildern Riesen dort.
85 Nicht weiß ich, wem's gelang, daß er im Streite
  Ihn fing und band, doch vorn geschnürt erschien
  Sein linker Arm und hinter ihm der zweite!
88 Denn eine Kett' umwand vom Nacken ihn,
  Um, was von seinem Leib nach oben ragte,
  Nach unten hin fünfmale zu umziehn.
91 Da sprach mein Meister: "Mit dem Donn'rer wagte
  Sein kühner Stolz des großen Kampfes Loos,
  Hier aber sieh den Preis, den er erjagte.
94 Ephialtes ist's. Sein Thun war kühn und groß  94
  Im Riesenkampfe zu der Götter Schrecken;
Nun ist sein drohn'der Arm bewegungslos."
97 Und ich zu ihm: ""Den ungeheuren Recken,
  Den Briareus, wenn dies geschehen kann,  98
  Möcht' ich wohl gern in diesem Thal entdecken.""
100 Mein Führer drauf: "Du siehst hier neben an  100
Antäus stehn. Er spricht, ist ungebunden,
Und setzt uns nieder in den tiefsten Bann.
103 Der, den du suchst, wird weiterhin gefunden,
  Gleich diesem hier, nur schrecklicher zu schau'n,
Allein wie er mit Ketten fest umwunden."
106 Hier schüttelt' Ephialtes sich, und traun!
Kein Erdenstoß, von dem die Thürme schwanken,
War heftiger, erregte tiefres Grau'n.
109 Ich glaubte schon dem Tode zuzuwanken,
Und sah ich nicht, wie ihn die Kett' umschloß,
So gnügten mich zu tödten die Gedanken.
112 Wir gingen weiter, ich und mein Genoß,
Und sahn Antäus, der dem tiefen Bronnen,
Zehn Ellen bis zum Haupte hoch, entsproß.
115 "Der du im Thal, das ew'gen Ruhm gewonnen,  115
Weil Hannibal in ihm, der kühne Feind,
Mit seiner Schaar vor Scipio's Muth entronnen,
118 Einst tausend Löwen fingst, wenn du, vereint
Mit deinen Brüdern kühn den Arm geschwungen
Im hohen Krieg, so hätten, wie man meint,
121 Die Erdensöhne doch den Sieg errungen.
Jetzt setz' uns dort hinab, wo, fern dem Licht,
Die starre Kälte den Cocyt bezwungen.
124 Zu Tiphöus oder Tityus schick' uns nicht,
Das, was man hier ersehnt, kann dieser geben,
Verzerre drum nicht also dein Gesicht;
127 Er kann auf Erden deinen Ruf erheben.
Er lebt und hofft, wenn ihn nicht vor der Zeit
Die Gnade zu sich ruft, noch lang zu leben."
130 Er sprach's, und Jener, schnell zum Griff bereit,
Streckt' aus die Hand, um auf ihn loszufahren,
Die Hand, die Herkul fühlt' im großen Streit.
133 Virgil, kaum konnt' er sich gepackt gewahren,  133
  Rief:" Komm hierher, wo dich mein Arm umstrickt!"
  Drauf macht' er's, daß wir Zwei ein Bündel waren.
136 Wie Carisenda, unterm Hang erblickt,  136
  Sich vorzubeugen scheint und selbst zu regen,
  Wenn Wolken ihr der Wind entgegenschickt,
139 So schien Antäus jetzt sich zu bewegen,
  Als er sich niederbog, und großen Hang
  Empfand ich, fortzugehn auf andern Wegen.
142 Doch leicht zum Grund, der Lucifern verschlang
  Und Judas, setzt' er nieder unsre Last,
  Und, so geneigt, verweilt' er dort nicht lang,
145 Und schnellt' empor, als wie im Schiff der Mast.  145

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Zweiunddreißigster Gesang

Erläuterungen:

1 Am Ende des vorigen Gesanges V. 131 hatte Virgil den Dichter durch seinen Tadel gekränkt, dann durch seinen Zuspruch V. 142 ihn wieder getröstet. Sein Wort war daher wie der Speer Achilles, der den Telephus erst verwundete und dann durch seine Berührung wieder heilte.

7 Die zehn Abtheilungen des achten Kreises mit den verschiedenen Gattungen von Betrügern sind nun durchwandert. Die Dichter gehen quer über den Felsendamm, um sich dem neunten Kreise zu nähern, in welchem die Verräther bestraft werden. Es ist der Brunnen, von welchem Ges. 18 V. 4 ff. die Rede ist.

16 Karl der Große, welcher die Absicht hatte, die Mauren aus Spanien zu vertreiben, wurde durch den Verrath des Gan von Mainz bei Ronceval von den Feinden völlig geschlagen. Hier soll, nach Turpin, Roland mit solcher Gewalt ins Horn gestoßen haben, daß der Schall meilenweit in der Runde gehört wurde.

22 Der Dichter, welcher sein Werk ein vielsinniges nennt, scheint in diesen Versen selbst den Leser zu warnen, daß er nicht zu viel darin suchen, sondern nur das darin erkennen solle, was sich nach näherer Betrachtung und Erwägung dem gesunden Auge und Geiste als dessen wahrer Sinn ohne Zwang zu erkennen giebt.

40 Montereggione, ein Schloß in der Gegend von Siena. Wir sehen wieder ein bedeutsames Bild mit meisterhafter Klarheit uns vor die Augen gestellt. Von Weitem schien sich in der düstern Luft eine Veste, von Thürmen umgeben, zu erheben. In der Nähe wird erkannt, daß es Riesen sind, welche, mit dem halben Leibe im Brunnen, außerhalb desselben vom Nabel an in die Luft hervorragen. Diese Riesen sind die Giganten, welche sich gegen den Zeus empörten. Ihnen beigesellt ist Nimrod, der mächtige Jäger des alten Testaments, welcher durch seinen thörichten und frevelhaften Bau sich gleicher Empörung schuldig machte. - Der Verrath ist das schwerste aller Verbrechen, folglich die strafbarste Verletzung der Gebote Gottes, daher wir den Strafort sinnig und bedeutsam von offenbaren Empörern gegen die Gottheit umgeben sehen. Und da der Dichter, wie bereits bemerkt worden und weiterhin besonders im Fegefeuer zu bemerken sein wird, biblische und heidnische Gestalten zu seinen Zwecken benutzt, so darf uns nicht wundern, daß wir Empörer gegen den Jupiter hier finden, statt der gegen Gott empörten Engel, welche für den dichterischen Zweck eine minder bestimmte Gestaltung und eine minder klare Erinnerung an einzelne Züge dargeboten haben würden.

59 Dem Thurmknopf, im Orig. la pina di San Pietro, dem Pinienzapfen St. Peters. Nach Einigen war ehedem ein Thurmknopf auf der Peterskirche in Rom in Form eines Tannenzapfens - nach Andern hatte ein solcher auf dem Grabmal des Hadrian gestanden, war aber heruntergestürzt und auf dem Platze vor der Peterskirche aufgestellt worden. Der Uebersetzer hat diejenige Auslegung gewählt, die beim ersten Blicke ein vollständiges Bild giebt.

63 Die Friesen scheinen zu jener Zeit in dem Rufe vorzüglicher Körpergröße gestanden zu haben. Also drei hohe Männer über einander gestellt, würden ihm von der Mitte des Leibes an kaum bis ans Haar gereicht haben.

67 Worte ohne Sinn, wie Virgil V. 80 zu erkennen giebt.

70 Die Lehre, die Virgil dem Nimrod giebt, sich doch mit unverständlichen Worten nicht zu bemühen und lieber ins Horn zu stoßen, um seine wilden Leidenschaften auszudrücken - ist eben so praktisch, als die, welche Dante empfängt, den Thurmbaumeister stehen zu lassen. Allen modernen Baumeistern dieser Art wollen wir die erste Lehre zur Beherzigung empfehlen - glücklich aber wollen wir alle diejenigen preisen, welche durch nichts gehindert werden, die zweite Lehre zu befolgen.

94 Ephialtes thürmte mit seinem Bruder Otus auf den Olymp den Ossa und auf den Ossa den Pelion, um den Himmel zu ersteigen. Und doch deckte noch kaum Milchhaar ihr Kinn, als Apollo mit seinen Pfeilen sie erlegte. Seine Arme sind gebunden, aber die Erde zittert noch, wenn er sie schüttelt. (V. 206.)

98 Briareus, der hundertarmige Riese, ein Sohn des Uranus und der Erde.

100 Antäus, ein Sohn der Erde, welche ihm, sobald er sie berührte, neue Kraft gab. Herkules mußte ihn daher ersticken, weil Antäus im Kampfe mit ihm, nach jedem Falle als ein fürchterlicherer Feind sich erhob. Er ist ungebunden, weil er nicht am Kriege gegen den Donnerer theilnahm.

115 Virgil giebt hier in den an Antäus gerichteten Worten die sehr praktische Lehre: daß es überall, selbst in der Hölle, rathsam sei, den Großen zu schmeicheln, wenn man etwas von ihnen haben wolle. Ob diese Lehre der Vernunft angemessen sei, welche Virgil repräsentirt, mag hier nicht entschieden werden. Vielleicht hat sie der Dichter mit dem Verstande verwechselt. Den Wohnsitz des Antäus setzt Dante, dem Lucan folgend, in die Gegend, wo Hannibal von Scipio besiegt wurde.

133 Virgil, wie er sich von Antäus gefaßt fühlt, ruft und faßt den Dante und umstrickt ihn so, daß Antäus die beide als ein Bündel hinabbringen kann.

136 Die Carisenda, ein Thurm in Bologna, der entweder durch Kunst oder Ungeschicklichkeit seines Erbauers nach einer Seite vorhängt. Antäus, der nur mit halbem Leibe aus dem Brunnen hervorragt, braucht sich nur wenig zu bücken, und daher kaum merklich zu bewegen, um die Dichter zu erfassen. Dies wird durch jenes Gleichniß ohne Worte trefflich ausgesprochen.

145 Der Dichter gebraucht fast immer nur weibliche Reime, nicht aus Wahl, sondern weil die italienische Sprache nur wenige und schlechte männliche Reime hat. In dem 143. und 145. Verse macht er eine der seltenen Ausnahmen von dieser Regel. Der letzte Vers lautet: E come albero in nave si levò. Dieser Vers und der kurz abgebrochene männliche Reim soll, wie man meint, das plötzliche Emporschnellen des gebeugten Riesen auch durch den Klang versinnlichen. Obgleich der Uebersetzer auf diese Art der Versinnlichung keinen großen Werth legt, so hat er sie doch wiederzugeben versucht, was aber nur möglich war, wenn von der Regel des Reimwechsels ebenfalls eine Ausnahme gemacht wurde.