Die Hölle. |
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Vierter Gesang. |
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Seite 1:1 der Originalvorlage
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1 | Mir brach den Schlaf im Haupt ein Donnerkrachen | |
So schwer, daß ich zusammenfuhr dabei, | ||
Wie Einer, den Gewalt zwingt, zu erwachen. | ||
4 | Ich warf umher das Auge wach und frei, | |
Emporgerichtet spähend, daß ich sähe | ||
Und unterschied', an welchem Ort ich sei. | ||
7 | So fand ich mich am Thalrand, in der Nähe 7 | |
Des qualenvollen Abgrunds, dessen Kluft | ||
Zum Donnerhall vereint unendlich Wehe. 9 | ||
10 | Tief war er, dunkel, nebelhaft die Luft, | |
Drum wollte nichts sich klar dem Blicke zeigen, | ||
Den ich geheftet an den Grund der Gruft. | ||
13 | "Laß uns zur blinden Welt hinuntersteigen, | |
Ich bin der Erste, du der Zweite dann," | ||
So sprach Virgil, um drauf erblaßt zu schweigen. | ||
16 | Ich, sehend, wie die Bläss' ihn überrann, | |
Sprach: ""Scheust du selber dich, wie kann ich's wagen, | ||
Der Trost im Zweifel nur durch dich gewann?"" | ||
19 | Und er zu mir: "Des tiefen Abgrunds Plagen | |
Entfärben mir durch Mitleid das Gesicht, | ||
Und nicht, so wie du meinst, durch feiges Zagen. | ||
22 | Fort, zaudern läßt des Weges Läng' uns nicht." | |
So ging er fort und rief zum ersten Kreise | ||
Mich auch hinein, der jene Kluft umflicht. | ||
25 | Mir schien, nach meinem Ohr, des Klanges Weise, | |
Der durch die Luft hier bebt im ewigen Thal, | ||
Nicht Klaggeschrei, nur Seufzer dumpf und leise. | ||
28 | Und dieses kam vom Leiden ohne Qual | |
Der Kinder, Männer und der Frau'n in Schaaren, | ||
Die viele waren und von großer Zahl. | ||
31 | Da sprach der Meister: "Willst du nicht erfahren: | |
Zu welchen Geistern du gekommen bist? | ||
Bevor wir fortgehn, will ich offenbaren, | ||
34 | Daß sie nicht sündigten; doch gnügend mißt | |
Nicht ihr Verdienst, da sie der Tauf' entbehrten, | ||
Die Pfort' und Eingang deines Glaubens ist. | ||
37 | Und lebten sie vor Christo auch, so ehrten | |
Sie doch den Höchsten nicht, wie sich's gebührt; 38 | ||
Und diese Geister nenn' ich selbst Gefährten. | ||
40 | Nur dies, nicht Andres hat uns hergeführt. 40 | |
Das wir in Sehnsucht ohne Hoffnung leben, | ||
Ward uns Verlornen nur als Straf' erkürt." | ||
43 | Groß war mein Schmerz, als er dies kund gegeben. | |
Denn Leute großen Werthes zeigten sich, | ||
Die unentschieden hier im Vorhof schweben. | ||
46 | Und ich begann: ""Mein Herr und Meister, sprich, 46 | |
(Ich wollte mich in jenem Glauben stärken, | ||
Vor dessen Licht des Irrthums Nacht entwich,) | ||
49 | Kam Keiner je durch Kraft von eignen Werken, | |
Durch fremd Verdienst von hier zur Seligkeit?"" - | ||
Er schien des Worts versteckten Sinn zu merken, | ||
52 | Und sprach: "Ich war noch neu in diesem Leid, | |
Da ist ein Mächtiger hereingedrungen, | ||
Bekrönt mit Siegesglanz und Herrlichkeit. | ||
55 | Der hat des Urahns Geist der Höll' entrungen, | |
Auch Abel's, Noah's; und auch Moses hat, | ||
Der Gott gehorcht, mit ihm sich aufgeschwungen. | ||
58 | Abram und David folgten seinem Pfad, | |
Jakob, sein Vater, seine Söhne schieden, | ||
Und Rahel auch, für die so viel er that. | ||
61 | Sie und viel' Andre führt er ein zum Frieden, | |
Und wissen sollst du nun: Vor diesem war | ||
Erlösung keinem Menschengeist beschieden." | ||
64 | Obwohl er sprach, ging's vorwärts immerdar, | |
So daß wir unterdeß den Wald durchdrangen, | ||
Den Wald, mein' ich, der dichten Geisterschaar. | ||
67 | Nicht weit von oben waren wir gegangen, | |
Als ich ein Feu'r in lichten Flammen sah, | ||
Die dort im halben Kreis die Nacht bezwangen. | ||
70 | Zwar waren wir dem Ort nicht völlig nah, | |
Doch einen Kreis von ehrenhaften Leuten, | ||
Die diesen Platz besetzt, erkannt' ich da. | ||
73 | ""Du, deß sich Wissenschaft und Kunst erfreuten, | |
Beliebe, wer sie sind, und was sie ehrt | ||
Und von den Andern trennt, mir anzudeuten."" | ||
76 | Ich sprach's, und Er: "Für hochgepries'nen Werth, | |
Der oben wiederklingt in deinem Leben, | ||
Ward ihnen hier vom Himmel Huld gewährt." | ||
79 | Da hört' ich eine Stimme sich erheben: | |
Der hohe Dichter, auf, jetzt zum Empfang! | ||
Sein Schatten kehrt, der jüngst sich fortbegeben. | ||
82 | Sobald die Stimme, die dies sprach, verklang, | |
Sah ich heran vier große Geister schreiten, | ||
Im Angesicht nicht fröhlich und nicht bang. | ||
85 | Da sprach der gute Meister mir zur Seiten: | |
"Sieh diesen, in der Hand das Schwert, voran | ||
Den Andern gehn, um sie als Fürst zu leiten. | ||
88 |
Du siehst Homer, den Dichterkönig, nahn; | |
Ihm folgt Horaz, berühmt durch Spott dort oben | ||
Ovid der Dritt', als Letzter kommt Lukan. | ||
91 | Im Namen, den die eine Stimm' erhoben, 91 | |
Kommt mit mir selber Jeder überein, | ||
Drum ehren sie mich, und dies ist zu loben." | ||
94 | So war die schöne Schul' hier im Verein | |
Des hohen Herrn der höchsten Sangesweise, | ||
Der ob den Andern fliegt, ein Aar, allein. | ||
97 | Ein Weilchen sprachen sie im trauten Kreise, | |
Doch als sie grüßend sich zu mir gekehrt, | ||
Da lächelte Virgil zu solchem Preise, | ||
100 | Allein noch höher ward ich dort geehrt, | |
Indem sie mich in ihrem Schaar empfingen, | ||
Als Sechsten unter solchem Geist und werth. | ||
103 | Wobei wir hin bis zu dem Lichte gingen, | |
Sprechend, wovon ich schicklich schweigen muß, | ||
Wie man dort schicklich sprach von solchen Dingen. | ||
106 | Bald kamen wir an eines Schlosses Fuß, 106 | |
Von siebenfacher hoher Mau'r umfangen, | ||
Und rings beschützt von einem schönen Fluß, | ||
109 | Als wir mit trocknem Fuße durchgegangen, 109 | |
Ging's weiter dann durch sieben Thore fort, | ||
Und eine Wiese sah ich grünend prangen. | ||
112 | Wir fanden Leute strengen Blickes dort, | |
Mit großer Würd' in Ansehn, Gang und Mienen | ||
Und wenig sprechend, doch mit sanftem Wort. | ||
115 | Und wir ersahn dort seitwärts nah bei ihnen | |
Frei eine Höh' in hellem Lichte glühn, | ||
Vor welcher Alle klar vor uns erschienen. | ||
118 | Dort gegenüber auf dem sammtnen Grün | |
Sah ich die Großen, ewig Denkenswerthen, | ||
Die heut' mir noch in stolzer Seele blühn. | ||
121 | Elektren sah ich dort mit viel Gefährten, | |
Aeneas, Hektorn hatt' ich bald erkannt, | ||
Cäsarn, den mit dem Adlerblick bewehrten. | ||
124 | Penthesilea war auf grünem Land; | |
Zur andern Seite sah ich auch Latinen, | ||
Der bei Lavinien, seiner Tochter, stand. | ||
127 | Ich sah den Brutus, der verjagt Tarquinen, | |
Lucrezien, Julien, Marzien, und, allein | ||
Bei Seite sitzend, sah ich Saladinen. | ||
130 | Dann, höher blickend, sah im hellen Schein | |
Ich auch den Meister derer, welche wissen, 131 | ||
Der von den Seinen schien umringt zu sein, | ||
133 | Sie all' ihn hoch zu ehren sehr beflissen; | |
Den Plato ihm zunächst und Sokrates, | ||
Die dort den Sitz vor Andern an sich rissen. | ||
136 | Den Anaxagoras, Diogenes, | |
Den Demokrit, deß Welt der Zufall machte, | ||
Den Zeno, Heraklid, Empedokles, | ||
139 | Ihn, der ans Licht der Pflanzen Kräfte brachte, | |
Den Dioskorides, den Orpheus dann, | ||
Den Seneka, der Schmerz und Lust verlachte. | ||
142 | Auch Ptolemäus kam, Euklid heran, | |
So auch Averrhoes, der, seinen Weisen, | ||
Erklärend, selbst der Weisheit Ruhm gewann. | ||
145 | Doch nicht vermag ich Jeden hier zu preisen | |
Denn also drängt des Stoffes Größe mich, | ||
Daß ihren Dienst mir kaum die Wort' erweisen. | ||
148 | Um Zwei verminderte die Sechszahl sich; | |
Mich führt' auf anderm Weg mein weiser Leiter | ||
Dahin, wo Stille lautem Tosen wich, | ||
151 | Und dorthin, wo nichts leuchtet, schritt ich weiter. 145-151 |
Erläuterungen:
7 Der Bau des Höllentrichters ist zwar im Gedichte selbst mit so großer Deutlichkeit gezeichnet, daß der aufmerksame Leser keine Beschreibung bedarf, um ihn vollkommen sich vorzustellen. Um indessen dem minder aufmerksamen die Vorstellung bequemer zu machen, und seine Aufmerksamkeit auf das, was sich hierauf bezieht, zu leiten, geben wir im Voraus das Bild, das sich erst nach Durchlesung des ganzen Gedichtes durch Zusammenstellung der einzelnen Theile klar darstellt. Im Innern der Erde ist, nach der Vorstellung des Dichters, eine Höhle, die sich bis zum Mittelpunkt herabzieht. Sie geht trichterförmig, jedoch in Absätzen, abwärts und verengt sich zuletzt zum Brunnen. Jeder dieser Absätze, rund um die Höhle herumlaufend, bildet einen Kreis, in welchem eine Gattung von Sündern ihre Strafe findet. Daß diese Kreise nach oben hin von Felsenbänken, zum Theil von Felsendämmen eingechlossen sind, und nach unten hin an die Leere des Abgrundes gränzen, ist zwar nicht allenthalben bestimmt angegeben, jedoch aus vielen einzelnen Stellen ersichtlich. Der siebente Kreis, welcher die Gewaltthätigen enthält, zerfällt in drei Binnenkreise, da man Gewalt, nach des Dichters Erklärung, gegen den Nächsten, gegen sich selbst und gegen Gott ausübt. Ebenso ist der achte Kreis nach den verschiedenen Arten des Betrugs, der darin bestraft wird, in mehrere besondere Thäler abgetheilt. Diese sind auf beiden Seiten von Felsenwänden eingeschlossen, welche durch die brückenförmig überspringenden Felsen verbunden werden. Nicht minder zerfällt der neunte Kreis wieder in vier verschiedene Abtheilungen, nach den darin bestraften Verräthern. Die Größe dieser verschiedenen Kreise auszumessen, überläßt der Dichter der Phantasie des Lesers, welcher er erst im neunundzwanzigsten Gesange V. 8 zu Hülfe kommt, wo wir erfahren, daß die dort beschriebene Abtheilung des achten Kreises zweiundzwanzig Miglien in der Runde enthält. Im dreßigsten Gesange V. 36 wird der Umfang des nächsten Kreises auf elf Miglien, seine Breite auf eine halbe Miglie bestimmt. Wenn wir von diesem Verhältnisse zweier nebeneinander und schon sehr tief liegenden Kreise auf den Umfang der oberen schließen, so werden wir uns die obersten als sehr groß vorstellen dürfen. Die moralische Construction der Hölle finden wir im 11ten Gesange beschrieben, wo wir erfahren, daß die Tiefe des Straforts der Abscheulichkeit der bestraften Sünden entspricht, daher wir die leichten Sünder in den oberen Kreisen finden. Als der schwerste Sünder und als Urheber aller Sünden ist Lucifer im Mittelpunkte eingepfählt. Die geometrische und moralische Construction entsprechen sich auch darin, daß, je schwerer ein Verbrechen ist, es um desto seltner vorkommt. Der Strafort der Verräther, welcher nur eine verhältnißmäßig kleine Anzahl von Sündern zu fassen hat, ist daher der engste. Dahingegen ist den unzählbaren Erbärmlichen, die ohne Schmach und ohne Lob gelebt, der weiteste, den ganzen obern Rand des Höllentrichters umfassende Raum überwiesen. 9 Hier ist von dem ganzen Höllentrichter und allen darin ertönenden Klagen, V. 25-27 aber nur von dem ersten Kreise die Rede. 38 Diejenigen, die vor Christus gelebt, haben Gott nur dann gebührend geehrt, wenn sie an den künftigen Heiland geglaubt haben. Vgl. Paradies Ges. 32; auch Ges. 20 V. 103 ff. 40 Diejenigen, die zwar menschlich würdig, aber ohne Glauben leben, können alles Irdische erlangen, nur die Ahnung und Hoffnung des höchsten Lichtes bleibt ihnen verschlossen. Und da Alles, was die Erde giebt, nie das Gemüth befriedigt, so verfließt ihr Leben in ewig ungestillter Sehnsucht nach einem unbekannten Ziele. So finden wir die Seelen in diesem Kreise, welcher noch nicht zum eigentlichen Straforte gehört, sondern den Vorhof desselben bildet. Sie genießen die Schönheit der Erde wieder in dem Grün der Wiese und in dem schönen Flusse; sie genießen die Kunst, die das Leben verschönt; auch der Schein des Lichtes fehlt ihnen nicht, - aber es ist nicht das himmlische, und so bleiben sie in der Mitte aller von der Milde des Himmels ihnen gestatteten Genüsse, selbst im Bewußtsein eines würdigen Lebens, dennoch Verdammte. 46 Dante, welcher weiß, daß Virgil vor Christus gestorben, will durch ein Zeugnis bestätigt hören, daß Christus durch die Pforten der Hölle gedrungen sei, und dadurch seines Glaubens noch sicherer werden. 91 Jedem gebührt der Name des hohen Dichters, welchen die Stimme V. 80 aussprach. Aber eigner Werth macht sie geneigt zur Anerkennung fremden Werthes. 106 Unter den sieben Mauern welche das Schloß umringen, verstehen die Ausleger theils sieben Tugenden, welche man ohne Glauben erstreben kann, theils die sieben freien Künste. 109 Warum gehen die Dichter trocknen Fußes (im Original: wie auf harter Erde) durch den schönen Fluß? Vielleicht um anzudeuten, daß dieser Fluß nicht wahrhaft benetzt, erfrischt und erquickt, daß also auch diese Zierde des Orts kein Wesen hat, wie alle Dinge, die nicht durch den Glauben in Zusammenhang mit dem Ganzen und Ewigen gebracht werden. - Die dem Uebersetzer bekannten Erklärungen der Ausleger sind nicht minder gewagt, als diese, aber theils völlig flach und gemein, theils dem ganzen Inhalte des Gedichts wenig entsprechend. 131 Der Meister - Aristoteles. Die übrigen Namen der im Texte angeführten griechischen und römischen Männer und Frauen lassen wir ohne Bemerkung welche dem Kundigen, da sie nur sehr kurz sein könnte, nicht nöthig ist, dem Unkundigen aber nichts nützen würde. Daß Sultan Saladin, als zu ihnen nicht gehörig, allein sitzt, erklärt sich von selbst. 145-151 Die Sechszahl. Die vier V. 88-90 benannten Dichter, Virgil und Dante: die beiden letzteren trennen sich von ersteren, und nahen dem eigentlichen Straforte, dessen Beschaffenheit, im Gegensatze zu der des Vorhofs, in den beiden letzten Versen angedeutet ist. |