Uebersicht

Die Hölle.

Zweiter Gesang.

1   Der Tag verging, das Dunkel brach herein, 1-13
  Und Nacht entzog die Wesen auf der Erden
  All' ihren Müh'n, da rüstet' ich allein
4  

Mich zu dem harten Krieg und den Beschwerden

  Des Wegs und Mitleids, und jetzt soll ihr Bild
  Gemalt aus sicherer Erinn'rung werden.
7   O Mus', o hoher Geist, jetzt helft mir mild!
  Erinn'rung, die du schriebst, was ich gesehen,
  Hier wird sich's zeigen, ob dein Adel gilt!
10   ""Jetzt, Dichter,"" fing ich an, ""bevor wir gehen,
  Erwäge meine Kraft und Tüchtigkeit!
  Kann sie die große Reise wohl bestehen?
13   Du sagst, daß Silvius' Vater in der Zeit, 13-30
  Im Körper noch, und noch ein sterblich Wesen
  Sei eingedrungen zur Unsterblichkeit.
16   Doch da, der stets des Bösen Feind gewesen,
  In seinen Empyre'n zum Stifter ihn
  Der Mutter Roma und des Reichs erlesen,
19   Kann Jeder, dem Vernunft ihr Licht verliehn,
  Beim hocherhabnen Zweck es wohl ergründen,
  Daß er nicht unwerth solcher Huld erschien.
22   Denn Rom und Reich, um Wahres zu verkünden,
  Gestiftet wurden sie, die heil'ge Stadt
  Zum Sitz für Petri Folger zu begründen.
25   Durch diesen Gang, den du ihm nachrühmst, hat
  Er Kunde deß, wodurch er siegt', empfangen
  Und Grund gelegt zur heil'gen Herrscherstatt.
28   Ist das erwählte Rüstzeug hingegangen,
  So stärkt es in dem Glauben dann die Welt,
  In dem der Weg des Heiles angefangen,
31   Doch ich? warum? wer hat mir's frei gestellt? 31-42
  Aeneas nicht noch Paul, ich, dessen Schwäche
  Nicht ich, noch Jemand dessen würdig hält.
34   Wenn ich dorthin zu kommen mich erfreche,
  So fürcht ich, daß mein Kommen thöricht sei.
  Du, Weißer, weißt es besser, als ich spreche.""
37   Und wie, wer will und nicht will, mancherlei
  Erwägt und prüft, und fühlt im bangen Schwanken,
  Mit dem, was er begonnen, sei's vorbei;
40   So ich - das was ich leicht und ohne Wanken
  Begonnen hatte, gab ich wieder auf,
  Entmuthigt von den wechselnden Gedanken.
43   "Verstand ich dich," so sprach der Schatten drauf,
  "So fühlst du Angst und Schrecken sich erneuen
  Und Feigheit nur hemmt deinen weitern Lauf,
46   Das Beste macht sie oft den Mann bereuen,
  Daß er zurücke springt von hoher That,
  Gleich Rossen, die vor Truggebilden scheuen.
49   Doch hindre sie dich nicht am weitern Pfad,
  Drum höre jetzt, was ich zuerst vernommen,
  Da mir's um dich im Herzen wehe that.
52   Mich, nicht in Höll' und Himmel aufgenommen,
  Rief eine Frau, so selig und so schön,
  Das ihr Geheiß mir werth war und willkommen.
55   Mit Augen, gleich dem Licht an Himmelshöhn,
  Begann sie gegen mich gelind und leise,
  Und jeder Laut war englisches Getön:
58   O Geist, geboren einst zu Mantua's Preise,
  Deß Ruhm gedauert hat und dauern wird,
  So lang die Sterne ziehn in ihrem Kreise,
61   Mein Freund, doch nicht der Freund des Glückes, irrt
  In Wildniß dort, weil Wahn im Weg' ihn störte,
  So daß er sich gewandt, von Furcht verwirrt.
64   Schon irrte, fürcht' ich, also der Bethörte,
  Daß ich zu spät zum Schutz mich aufgerafft,
  Nach dem, was ich von ihm im Himmel hörte.
67   Du geh'; es sei durch deiner Rede Kraft,
  Durch das, was sonst ihm Noth, sein Leid geendet;
  So sei ihm Hülf' und Ruhe mir verschafft.
70   Beatrix bin ich, die ich dich gesendet;
  Mich trieb die Lieb' und spricht aus meinem Wort.
  Vom Ort komm ich, wohin mein Wunsch sich wendet.
73   Und steh' ich erst vor meinem König dort,
  So werd' ich oft dich loben und ihm preisen. -
  Sie sprach's und schwieg und ich begann sofort:43-75
76   Herrin der Tugend, Lehrerin der Weisen,
  Durch die die Menschheit Alles überragt,
  Was lebt in jenes Himmels kleinern Kreisen!
79   Spät, dächt' ich, wie mir dein Befehl behagt,
  Vollbrächt' ich, wär's vollbracht schon, dein Begehren.
  Wohl deutlich hast du deinen Wunsch gesagt, 76- 81
82   Doch wolle jetzt vom Grunde mich belehren,
  Aus dem du stiegst zum Mittelpunkt vom Licht,
  Zu welchem du dich sehnst, zurückzukehren.  82-84
85   Willst du es denn so tief ergründen, spricht 85
  Die Hohe drauf, so will ich's kürzlich sagen.
  Ich fürchte mich vor diesem Dunkel nicht,
88   Vor solchem Uebel ziemt sich wohl zu zagen,
  Das mächtig ist und leicht uns Schaden thut.
  Vor solchem nicht, bei welchem nichts zu wagen.
91   Gott schuf mich so, daß ich in seiner Hut
  Frei von den Nöthen bin, die euch durchschauern,
  Und nicht ergreift mich dieses Brandes Glut.
94   Ein edles Weib im Himmel sieht mit Trauern
  Das Hinderniß, zu dem ich dich gesandt,
  Drum kann der harte Spruch nicht länger dauern.
97   Sie flehte, zu Lucien hingewandt:
  Dein Treuer braucht dich jetzt im harten Streite,
  Darum empfehl' ich ihn in deine Hand.
100   Lucia, die sich ganz dem Mitleid weihte,
  Bewegte sich zum Orte, wo ich war,
  In Ruhe sitzend an der Rahel Seite.
103   Sie sprach: Beatrix, Gottes Preis fürwahr!
  Hilfst du ihm nicht, ihm, der aus großer Liebe
  Für dich entrann aus der gemeinen Schaar?
106   Als ob dein Ohr taub seinen Klagen bliebe,
  Als sähest du ihn nicht im Wirbel dort,
  Bedroht, mehr als ob Meeressturm ihn triebe?
109   Nicht eilt so schnell auf Erden Einer fort,
  Den Gier nach Glück und Furcht vor Leid bethören,
  Wie ich herabgeeilt bei solchem Wort,
112   Von meinem Sitz in jenen sel'gen Chören,
 

Vertrau'nd auf deiner würd'gen Rede Macht,

  Die Ruhm dir bringt und Allen, die sie hören. -
115   Als nun Beatrix solches vorgebracht,
  Da wandte sie die Augenstern' in Zähren,
  Und dies hat mich nur schneller hergebracht.
118   So komm' ich denn daher auf Ihr Begehren,
  Das Unthier von dir scheuchend, dem's gelang,
  Den kurzen Weg des schönen Bergs zu wehren.
121   Was also ist dir? warum weilst du bang?
  Was herbergst du die Feigheit im Gemüthe?
  Was weicht dein Muth, dein kühner Thatendrang,
124   Da sich drei heil'ge Himmelsfrau'n voll Güte
  Für dich bemüh'n, und dir mein Mund verspricht,
  Das ihre Sorge dich so treu behüte."
127   Gleichwie die Blum' im ersten Sonnenlicht,127
  Beim nächt'gen Reif gesunken und verschlossen,
  Den Stiel erhebt und ihren Kelch entflicht;
130   So hob die Kraft, erst schmachtend und verdrossen,
  In meinem Herzen sich zu gutem Muth
  Und ich begann frohsinnig und entschlossen:
133   ""O wie ist Sie, die für mich sorgte, gut!
  Wie freundlich bist auch du, der den Befehlen
  Der Herrlichen so schnell Genüge thut!
136   Mein Sehnen glüht - nicht wird die Kraft mir fehlen
  Bei deinem Wort - schon fühl' ich, nicht mehr bang,
  Vom ersten Vorsatz wieder mich beseelen.
139   Drum auf, in Beiden ist ein gleicher Drang,
  Herr, Führer, Meister, auf zum großen Wege!""
  Ich sprach's zu ihm, und, folgend seinem Gang,
142   Schritt ich daher auf waldig rauhem Stege.

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Dritter Gesang

Erläuterungen:

1-13 Ueber den Erwägungen der Vernunft ist der Tag verflossen. Die Nacht kommt und mit ihr neuer Zweifel; denn die Entschließungen, die aus der Vernunft hervorgegangen, schwanken; nur der Glaube ist sicher. Der Dichter fragt: ob er auch tüchtig sei für den großen Zweck?

13-30 Wie der Dichter, um seine großen Ideen dem Geiste durch die Sinne einzuprägen, Bilder und Gleichnisse, wie sie sich darbieten, aus den Mythen des heidnischen Alterthums und aus der heiligen Schrift nimmt, so stellt er auch hier aus Beiden Beispiele solcher zusammen, die lebend in die Reiche der Todten versetzt wurden. Aeneas wurde in die Unterwelt geführt, um dort Nachrichten zu empfangen, welche die Gründung Roms, mithin des römischen Reichs und des päpstlichen Stuhles, förderten. (Beiläufig möge nicht unbemerkt bleiben, daß der Dichter, so streng er auch allenthalben die Verdorbenheit der Päpste und ihr Streben nach weltlicher Herrschaft straft, doch V. 22 bis 24 wie überall vor dem Institute des Papsttums selbst, vor dem monarchischen Princip in der Kirche die größte Ehrfurcht zeigt.) Paulus ward in den Himmel entzückt, um durch das, was er dort sah, den Glauben auszubreiten und zu befestigen.

31-42 Aeneas und Paulus wurden, lebend noch, in die Reiche, die jenseits des Lebens und seiner Irrthümer liegen, geführt, weil die Vorsehung durch Beide hohe Zwecke fördern wollte. Aber kann der Dichter hoffen, aus diesem Grunde dahin zu dringen, dort der Dinge Wesen zu erschauen, und selbst zum Anschauen des Göttlichen sich zu erheben? Er zweifelt an seiner Würdigkeit und zugleich an dem Erfolge des Strebens, welches durch die Eingebung der Vernunft in ihm entstanden war, und beginnt wieder in seinem Vorsatze zu wanken.

43-75 Die Vernunft selbst beseitigt diesen Zweifel. Als sie zuerst seinen Zustand erkannte, kam ihr auch ein Strahl des Lichtes von oben, in welchem sie ahnete, daß höhere Wesen dem Menschen, welcher gläubig und vertrauend zu dem Göttlichen emporstrebt, liebevoll beistehen, um ihn zu dem Höchsten zu führen. - Der Dichter findet seinen Schutz, seine Hülfe in Beatricen, der Jugendgeliebten, der Seligen und Beseligenden. In ihr ist die Erkenntniß Gottes, zu dessen Anschauen sie gelangt ist. Aber von dort schaut sie noch liebevoll auf den Freund zurück, den sie verirrt und auf dem Wege zur Verdammniß sieht, und wirkt zuerst für seine Rettung, indem sie die Vernunft zur Hülfe aufruft. Sie will die Vernunft am Throne des Höchsten preisen (V. 73 und 74), da diese es ist, die uns dem Glauben zuführt.

76-81 Denn der Glaube, nicht der Vernunft entgegen, aber über ihr stehend, beginnt seine Wirksamkeit da, wo die der Vernunft aufhört. Sie selbst erkennt die Gränze, welche zu überschreiten ihr nicht gestattet ist. Deshalb folgt sie willig und eifrig dem Gebote, welches die höhere Macht ihr kund thut durch die Stimme des Herzens, in welchem Ahnung, Hoffnung und freudiges Vertrauen am Strahle göttlichen Lichts entzündet wurden.

82-84 Aber noch einmal wird sie, ehe sie ganz der höhern Einwirkung sich hingiebt, durch Zweifel gestört. Wie? sollen höhere Mächte in unermessener Größe, im ewigen Lichte sich um diese kleine Erde und um diejenigen bekümmern, die auf ihr im halben Selbstbewußtsein träumen?

85 Da lös't ein neuer hellerer Strahl des ewigen Lichtes diese Zweifel wieder. Vor der ewigen Macht, die das Weltall ordnet, ist nichts klein und nichts groß. Die ewige Liebe umfaßt alle ihre Geschöpfe. Unzugänglich der irdischen Leidenschaft und der irdischen Noth, will sie die Leidenschaften der Menschen reinigen und sie auflösen in Liebe zu dem Göttlichen und ewig Wahren, worin alle Noth sich endet. Die himmlische Gnade erweckt dazu die Regungen im menschlichen Herzen. Sie entflammt darin den Muth, zum Bessern zu streben (V. 94-96). Sie erleuchtet den Weg, den der Ermuthigte wandeln soll, mit dem Lichte, zu welchem uns das Streben nach Gottes Anschauung führt ( V. 100-102), und läßt ihn zur Erkenntniß des Göttlichen gelangen, welche ihn dann weiter fördert bis zum höchsten Schauen. Dieser Erkenntniß darf er um so sicherer entgegensehen, wenn, ungeachtet aller Irrthümer in welchen er sich verlor, die Sehnsucht darnach noch nie in ihm erloschen ist. (V.104 und 105).

127 Diese Ahnungen, diese Hoffnungen, in der Vernunft aufsteigend, weil sie aus dem diesseits Erkennbaren auf das Höhere jenseits der ihrer Erkenntniß gestellten Grenzen folgern darf, verbannen alle Zweifel aus der Seele des Dichters. Muthig macht er sich auf, um der vom Himmel selbst ihm verliehenen Führerin, der Vernunft, zunächst und so weit zu folgen, als sie ihn zu leiten im Stande sein wird.

Dieser Ideengang des Dichters ergiebt sich, nach der Ueberzeugung des Uebersetzers, deutlich aus den beiden ersten Gesängen, welche als die Exposition des Ganzen zu betrachten sind. Im Verfolg des Werkes ist nichts zu finden, was diese Ueberzeugung wankend machen könnte, vielmehr wird sie durch das Ganze und Einzelne bestätigt. Auch hat der Dichter in dem Schreiben, mittelst dessen er dem großen Can della Scala den dritten Theil des Gedichts zugeeignet, selbst erklärt, daß der Gegenstand des Gedichts der Mensch sei, je nachdem er bei der Freiheit seines Willens durch seine Werke Strafe oder Lohn verdiene. Indessen hat diese authentische, einfache und vollkommen befriedigende Erklärung vielen Neuen nicht genügt, und es sind mehrere andere Auslegungen vorhanden, welche hier näher zu entwickeln nicht in unserm Zwecke liegt. Doch können wir zu bemerken nicht unterlassen, daß diejenigen, welche dem Gedicht eine ganz politische Deutung geben, dem Ruhme des großen Dichters einen schlechten Dienst erweisen, indem sie dasjenige, was den Menschen in allen seinen Kräften und Verhältnissen umfaßt, nur auf eine Seite derselben zu verengen und zu beschränken suchen. Wer aber sich mit mäßïgem Zeitaufwand über manche andere Auslegungen unterrichten will, möge die wohlgeschriebene Abhandlung von Filippo Scolari, della piena e giusta Intelligenza della divina commedia, Padoua 1823, nachlesen. Ueber die merkwürdigste neuere Auslegung der göttlichen Komödie wird man sich durch die vor Kurzem erschienene interessante kleine Schrift : Bericht über Rosetti's Ideen zu einer neuen Erläuterung des Dante und der Dichter seiner Zeit, Berlin 1840, ohne große Mühe unterrichten können. Hiernach bedeutet Virgil den personifizirten Ghibellinismus - der Panther die florentinische - der Löwe die französische Regierung - die Wölfin die päpstliche Curie.

Die einzelnen Stellen des Gesanges werden sich nach obiger Erklärung von selbst erläutern. Nur bei V. 102 ist noch zu bemerken, daß Rahel die Beschaulichkeit darstellt. Vergl. Fegefeuer Ges. 27 V. 104 - 108.