Uebersicht  

Das Fegefeuer.

Dreißigster Gesang.

1 Sobald der Empyre'n Gestirn des Norden
  (Das nimmer aufgeht, noch sich wieder senkt,
  Und das durch Sünden nur umnebelt worden;
4 Bei welchem Jeder dort der Pflicht gedenkt,
  Zu der es leitet, wie den Kahn hienieden
  Das, welches tiefer steht, zum Hafen lenkt),  1-6
7 Still stand, da wandten, die's vom Greifen schieden,  7
  Die zweimal zwölf und vier Wahrhaften sich
  Zum Wagen hin, als wie zu ihrem Frieden.
10 Und Einer, der des Himmels Boten glich,
  Rief dreimal singend zu der Andern Sange:
  "Komm, Braut, vom Libanon, und zeige dich!"  12
13 Wie bei des Weltgerichts Posaunenklange
  Der Sel'gen Schaar, mit leichtem Leib umfahn,
  Dem Grab erstehen wird mit eil'gem Drange,
16 So hoben von des heil'gen Wagens Bahn  16
  Wohl Hundert sich bei solcher Stimme Schalle,
  Des ew'gen Lebens Diener, himmelan.
19 "Heil dir, der kommt!" so klang's im Wiederhalle,  19
  "Streut Lilien jetzt mit vollen Händen hin!"
  Und Blumen warfen rings und oben Alle.
22 Schon sah ich bei des Tages Anbeginn  22
  Geschmückt den Osten sich mit Rosen zeigen,
  Sah klar den Himmel und die Königin
25 Des Tages, sanft umschattet, höher steigen,
  So daß, da ihren Schimmer Dunst umfloß,
  Mein Blick ihn aushielt, ohne sich zu neigen.
28 Hier, durch die Blumenflut, die sie umschloß,
  Die niederstürzend um und in den Wagen
  Sich aus der Himmelsboten Hand ergoß,
31 Sah ich ein Weib in weißem Schleier ragen,  31
  Olivenzweig' ihr Kranz, und um's Gewand,
  Das Feuer schien, des Mantels Grün geschlagen.
34 Mein Geist, dem schon so manches Jahr entschwand,
  Seit er in ihrer Gegenwart mit Beben
  Demüth'gen Staunens bange Lust empfand,
37 Fühlt', eh' das Aug' ihm Kunde noch gegeben,
  Durch die geheime Kraft, die ihr entquoll,
  Die alte Liebe mächtig sich erheben,
40 Kaum war der hohen Kraft die Seele voll,
  Der Kraft, durch die, bevor ich noch entgangen
  Der Knabenzeit, mein wundes Herz erschwoll,
43 So wandt' ich links mich hin, mit dem Verlangen,  43
  Mit dem ein Kind zur Mutter läuft und Muth
  Im Schrecken sucht und Trost im Leid und Bangen,
46 Um zu Virgil zu sagen: ""Ach mein Blut:
  Kein Tröpflein blieb mir, das nicht bebend zücke -
  Ich kenne schon die Zeichen alter Glut.""
49 Doch sein beraubt ließ uns Virgil zurücke,
  Virgil, der väterliche Freund - Virgil,  50
  Dem sie mich übergab zu meinem Glücke.
52 Was Eva einst verloren, da sie fiel,
  Nicht half es mir, die Thränen zu vermeiden,
  Wovon ein Strom die Wangen niederfiel.
55 "O Dante, mag Virgil auch von dir scheiden,  55
  Nicht weine drum, noch jetzo weine nicht;
  Zu weinen ziemt dir über andres Leiden!"
58 Und wie mit ernstgebietendem Gesicht
  Ein Admiral, der, musternd seine Schaaren
  Vom hohen Bord, sie mahnt an ihre Pflicht,
61 So war Sie links im Wagen zu gewahren,
  Als ich nach meines Namens Klang mich bog,
  Den hier die Noth mich zwang, zu offenbaren.
64 Ich sah die Frau, die erst sich mir entzog
  Als sie erschien, in jener Engelfeier,  65
  Wie nach mir her ihr Blick von jenseits flog.
67 Doch ihr vom Haupte wallend ließ der Schleier,  67
  Der von Minervens Laub umkränzet ward,
  Mir ihren Anblick nur noch wenig freier.
70 Stolz sprach sie nun mit königlicher Art,
  Gleich Einem, der erst mild spricht, anzuschauen,
  Und sich das härtre Wort für's Ende spart:
73 "Schau her, Beatrix bin ich! Welch Vertrauen
  Führt dich zu diesen Höh'n? Wie? weißt du nicht,
  Beglückte wohnen nur in diesen Auen."
76 Ich sah zum Bach hinab, sah mein Gesicht,
  Sah auf die Blumen dann, die mich umgaben,
  Gedrückt die Stirn von schwerer Scham Gewicht.  76-78
79 So stolz erscheint die Mutter ihrem Knaben,
  Wie sie mir schien; denn ihr mitleidig Wort
  Schien den Geschmack der Bitterkeit zu haben.
82 Sie schwieg, da sang der Engel Chor sofort  82
  Den Psalmen: Herr, auf dich nur steht mein Hoffen,
  Bis: Stellest meine Füß' auf weiten Ort.
85 Wie auf den Rücken Welschlands, welcher offen
  Den Stürmen ragt, der Schnee, im Frost gehäuft,
  Zu Eis erstarrt, vom slav'schen Wind getroffen,  87
88 Dann, in sich selbst versickernd, niederträuft,
  Wenn laue Wind' aus Libyen ihn verzehren,
  So wie, dem Feuer nah', das Wachs zerläuft;
91 So war ich, ohne Seufzer, ohne Zähren,
  Bevor die Engel sangen, deren Sang
  Nur Nachklang ist vom Lied der ew'gen Sphären.
94 Doch als im Lied ihr Mitleid mir erklang,
  Wohl heller klang, als hätten sie gesungen:
"Was, Herrin, machst du ihm das Herz so bang?"
97 Da ward das Eis, das fest mein Herz umschlungen,
  Zu Hauch und Wasser bald, und kam durch Mund
  Und Auge bang aus meiner Brust gedrungen.
100 Sie, welche, wie zuvor, im Wagen stund,
Sie wandte sich dem Engelchor entgegen,
Und that den heil'gen Schaaren dieses kund:
103 "Ihr wacht im ew'gen Tag, und nimmer mögen
  Euch einen Schritt entziehen Schlaf und Nacht,
Den das Jahrhundert thut auf seinen Wegen.
106 Drum ist die Antwort wohl für ihn bedacht,
Der drüben weint, damit sie klar beweise,
Das große Schuld auch große Schmerzen macht.
109 Nicht durch die Kraft allein der ew'gen Kreise,  109
Die jedes Wesen zu dem Ziele lenkt,
Das ihm sein Stern gesteckt für seine Reise,
112 Durch das auch, was die Gnade Gottes schenkt,
Sie, deren Regen solche Dünst' umgeben,
Daß sich kein Blick in ihre Tiefen senkt,
115 War dieser einst in seinem neuen Leben  115
Gar hoch begabt, um sich zur Trefflichkeit
Durch rechte Sitte mächtig zu erheben.
118 Doch wilder wird in schnöder Ueppigkeit
Jedweder schlechte Same sich entfalten,
Je kräft'ger ist des Bodens Fruchtbarkeit.
121 Wohl wußt' ich ein'ge Zeit ihn festzuhalten,
Indem ich ihm die jungen Augen wies;
Da ließ er gern als Führerin mich walten.
124 Doch hatt' er, als ich kaum die Welt verließ,
Zum bessern Sein zu gehn, sich mir entzogen,
Indem er Andern ganz sich überließ.
127 Als ich vom Fleisch zum Geist emporgeflogen,
Und höh're Tugend, höhern Reiz empfahn,
Da war er minder hold mir und gewogen.
130 Er wandte seinen Schritt zur falschen Bahn,
Trugbildern folgend schnöden Wonnelebens,
Und falschen Lockungen und leerem Wahn.
133 Im Traum und Wachen rief ich ihn vergebens,
  Und Mahnung haucht' ich ihm und Warnung ein,
  Doch blieb er taub im Leichtsinn eitlen Strebens.
136 Ein Mittel konnt' ihm nur zum Heil gedeihn,
  So tief schon hatt' er sich im Wahn verloren
  Und solches war der Anblick ew'ger Pein.
139 Deswegen drang ich zu der Hölle Thoren,
  Und habe den, der ihn heraufgeführt,
  Mit Bitten und mit Thränen dort beschworen.  141
142 Nicht wär's, wie sich's nach ew'gem Rath gebührt,
  Wenn er durch Lethe ging und sie genösse,
  Und nicht vorher, bußfertig und gerührt,
145 In Reuezähren seine Schuld ergösse.

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Einunddreißigster Gesang

Erläuterungen:

1 - 6 Der Empyre'n Gestirn des Nordens etc.: Die sieben Lichter, welche den Zug leiten. Im Original deutlicher: il settentrion, welches zugleich Nordgestirn und Siebengestirn ausdrückt. Das tiefere Siebengestirn, der große und kleine Bär, welche, immer über unserm Horizonte sichtbar, die Schiffer leiten - tiefer, weil der Fixstern-Himmel, wie wir im Paradiese sehen werden, sich unter den Empyreen wölbt.

7 Die's vom Greifen schieden: die zwischen den sieben Lichtern und dem Greifen gingen.

12 Komm, Braut, vom Libanon: S. das hohe Lied Kap. 4. V. 8.

16 Engel hatten unsichtbar den heilgen Wagen gehütet. Jetzt, da Beatrice (die himmlische Weisheit, die über der Kirche schweben soll) gerufen wird, erheben sie sich, um ihr Blumen zu streuen.

19 Matth. 21 V. 9: Hosianna, dem Sohn Davids. Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herrn - Zuruf des Volks, bei Christi Einzug in Jerusalem. Ob hier dieser Zuruf dem Dichter, oder dem Wagen Beatricens, oder dem Greifen gelte, ist im Text nicht bestimmt ausgedrückt.

22 Dem Dichter bricht hier ein neuer Tag an. Aber der Schein der Sonne ist durch sie umgebende Dünste noch so gemildert, daß sein Auge den Glanz ertragen kann - deutliche Andeutungen auf den allmäligen Uebergang in den Zustand höherer Vollkommenheit.

31 Beatrice. An den Farben ihres Schmucks wird man die drei geistlichen Tugenden, und am Olivenzweig das Symbol der Weisheit erkennen. Mit welcher einzigen Genialität und Schönheit die früh heimgegangene Jugendgeliebte und die himmlische Weisheit im Glauben - die von Jugend auf vom Dichter genährte Liebe zu Beiden und das Abirren von Beiden, in der nachfolgenden Darstellung gezeichnet sind - wie die Vorwürfe, welche der Dichter sich selbst und welche Beatrice ihm macht, gleich naturgemäß und wahr diejenigen ausdrücken, welche ein edles Gemüth über das Vergessen einer heimgegangenen Geliebten und über das Hingeben an sündige Leidenschaften, über das Abirren vom höhern Streben, sich machen möchte - dies wird jeder sinnige und aufmerksame Leser leicht selbst erkennen. - Uebrigens möge man über des Dichters Liebe zu Beatricen die Einleitung vergleichen.

43 Dante, in der Beklommenheit, welche Entzücken des Wiedersehens und das Bewußtsein der Schuld ihm einflößen, wendet sich an den gewohnten Führer, um durch ihn Sicherheit und Haltung zu gewinnen. Doch Virgil (die Vernunft) ist unbemerkt entschwunden, als Dante sich Beatricen (der göttlichen Weisheit und dem Glauben, die über der Vernunft stehen) genähert hat. Aber nur genähert hat er sich ihr bis jetzt, nicht sich ganz ihr hingegeben und sich innig mit ihr verbunden. Daher muß der Dichter, der sich hier an der Gränze zwischen zwei Zuständen, und den zeitherigen Führer entschwunden sieht, wohl diesen zunächst noch schmerzlich vermissen. (Vergl. Anm. zu Ges. 27. V. 128.)

50 Die göttliche Weisheit, der Glaube, oder wie man sonst Beatricen bezeichnen möge, hat die Vernunft zur Führerin des Dichters erkoren, um ihn so weit zu führen, als sie zu führen vermag, bis zu dem höchsten irdischen Zustande, von welchem der Geist unmittelbar zur himmlischen Seligkeit aufschwebt. So Dante, der Katholik des vierzehnten Jahrhunderts. Aber im neunzehnten wollen die Chorführer sowohl der katholischen Kirche, als des evangelischen modernen Zion auf keiner Stufe menschlicher Entwickelung die Vernunft mehr als Führerin zum Höchsten gelten lassen.

55 O Dante etc.: Worte Beatricens.

65 Von jener Engelfeier, von den Blumen, welche die Engel auf sie herabstreuten, und welche dem Dichter sie verbargen.

67 Fernere Hindeutung auf die nur allmälig im gereinigten Menschen aufgehende Erkenntniß des Göttlichen.

76-78 Dante, beschämt von den Worten Beatricens, blickt erst niederwärts vor sich hin. Da fällt sein Blick in den Bach, in dessen Spiegel er sich selbst sieht. Dieser Anblick erhöht seine Scham. Sein Haupt wird noch mehr von ihr niedergedrückt, daher sein Blick vom Bache rückwärts, nach seinen Füßen zu, abgleitet.

82 Die Engel singen, um den beschämten, tief gebeugten Dichter zu ermuthigen, die ersten neun Verse des einunddreißigsten Psalmen. Wie herrlich, wie psychologisch richtig dieser Trostgesang auf den Gebeugten wirkt, dessen gepreßtes Herz sich nun in wohlthätigen Seufzern und Thränen entschüttet, zeigen die folgenden schönen Verse.

87 Vom slaw'schen Wind, von dem Winde, der, aus Slavonien wehend, die Apenninen trifft, folglich vom Nordostwinde.

109 Mit den trefflichsten Fähigkeiten war der Dichter ausgerüstet, nicht allein durch die Sterne, die sein Schicksal bestimmten, sondern auch durch die Gnade Gottes, die, umschlossen vom verhüllenden Schleier, unerkannt ihre Gaben reicht.

115 In seinem neuen Leben, in seiner Jugend, als ihm ein neues Leben durch Beatricen aufgegangen war. (S. Einl.)

141 Nur derjenige soll von der quälenden Erinnerung an seine Sünden befreit werden, der sie vorher völlig erkannt und bereut hat.