Uebersicht

Das Fegefeuer.

Dreiundzwanzigster Gesang

1 Indeß ins Laubwerk meine Blicke drangen,
  So scharf und spähend, wie sie Einer spannt,
  Der seine Zeit verliert mit Vogelfangen,
4 Rief Er, der mehr als Vatersorg' empfand:
  "Sohn komm. Die Zeit, die uns verliehn zum Reisen,
  Sei eingetheilt und nützlicher verwandt."  1-6
7 Schnell wandt' ich Blick und Schritt zu beiden Weisen,
  Die also sprachen, daß zum leichten Gang
  Die Mühe ward, den Felsen zu umkreisen.
10 Sieh, da erklangen Klagen und Gesang:
  "Herr, meine Lippen," klang's mit einem Stöhnen,  11
  Das mich zugleich mit Lust und Leid durchdrang.
13 ""Mein süßer Vater, welche Stimmen tönen?""
  Ich rief's und Er drauf: "Schatten sind's, die nun
  Für einst versäumte Pflicht den Herrn versöhnen."
16 Wie unterweges eil'ge Wandrer thun,
  Die Leut' einholen, welche sie nicht kennen,
  Und sich zwar umsehn, doch nicht stehn und ruhn;
19 So kam jetzt hinter uns in schnellerm Rennen
  Ein frommer Haufe, lief vorbei und schaut'
  Uns staunend an, um schweigend fortzurennen.
22 Die Augen tief und hohl und nachtumgraut,  22
  Erschienen sie, die Hagern, die Erblaßten,
  Die Knochen alle sichtbar durch die Haut.
25 So mager, glaub' ich, war nach langem Fasten25
  So ausgetrocknet nicht Erisichthon,
  Als nun sein eignes Fleisch die Zähn' erfaßten.
28 Sie gleichen jenen, dacht' ich, da sie flohn,  28
  Die einst Jerusalem verloren haben,
  Wo selbst die Mutter fraß den eignen Sohn.
31 Tief war das Aug' in seinem Rund vergraben  31
  Das einem Ringe sonder Gemme glich,
  Und Nas' und rings die Knochen scharf erhaben.
34 Daß eines Apfels Duft so jämmerlich
  Zurichten könn' und Duft von einer Quelle,
  Begier erzeugend, wer wohl dächt es sich?
37 Schon forscht' ich, wie der Hunger sie entstelle,
  Indem ich noch die Ursach nicht verstund,
  Von ihrem magern Leib und traur'gen Felle.
40 Da sah ich, wie aus seines Hauptes Grund
  Ein Geist auf mich die Augen forschend richte,
  Der ausrief: "Welche Gnade wird mir kund?"
43 Nie hätt' ich ihn erkannt am Angesichte,
  Doch durch die Stimme ward mir offenbar,
  Wie Hunger Ansehn und Gestalt vernichte.
46 Und dieser Funke machte völlig klar
  Mir die Erinn'rung, daß ich sein gedachte,
  Und sah, daß dies Forese's Antlitz war.  48
49 Und er begann nun flehend: "Ach verachte
  Die dürre Haut nicht, noch mein blaß Gesicht,
  Ob auch die Schuld um alles Fleisch mich brachte,
52 Gieb wahrhaft mir von deinem Loos Bericht,
  Und von den Zwei'n, die bei dir sind - ich flehe! -
  Verweigre mir erwünschte Kunde nicht."
55 ""Dein Angesicht, bei dem mit tiefem Wehe,""
  Begann ich, ""als ich's todt sah, ich geklagt,
  Betrübt mich mehr, da ich's so hager sehe.
58 Drum sprich, bei Gott, was so dein Laub zernagt?
  Nicht wolle, daß ich, weil ich staun', erzähle,
  Denn übel spricht, wen selbst die Neugier plagt.""
61 "Vom ew'gen Rath," so sprach Forese's Seele,  61
  "Sinkt eine Kraft, die Bach und Baum durchdringt,
  Durch die ich hier mich abgemagert quäle.
64 Sie ist's, die Jeden, der hier weinend singt,
  Zur Heiligkeit vom wüsten Schwelgerleben
  Durch Hunger und durch Durst zurückebringt.
67 Der Duft, den jene Früchte von sich geben,
  Der Quell auch, der sich netzt, entflammt der Brust
  Nach Speis' und Trank ein nie gestillltes Streben.
70 So oft im Kreis wir dorthin ziehn gemußt,
  Wird immer diese Pein in uns erneuert -
  Ich sage Pein, und sollte sagen, Lust,
73 Weil nach dem Baum uns jener Drang befeuert,
  Der Christum froh dahin zum Kreuz gebracht,
  Wo unsrer Schmach sein theures Blut gesteuert."
76 Drauf ich: ""Forese, seit du jene Nacht
  Vertauscht mit diesem bessern Leben, zählte
  Man nur fünf Jahr, die kaum den Lauf vollbracht.
79 Wenn dir die Kraft zu sünd'gen eher fehlte79
  Als du durchdrungen warst von gutem Leid,
  Das stets die Seele neu mit Gott vermählte,
82 Wie stiegst du in so kurzer Frist so weit?
  Dort unten dich zu finden mußt' ich meinen,  83
  Wo man verlorne Zeit ersetzt durch Zeit.""
85 Und Er: "Zum süßen Vermuthstrank der Peinen
  Hat mich befördert meiner Nella Fleiß  86
  In frommem Flehn und ihr unendlich Weinen.
88 Denn ihr Gebet, ihr Stöhnen fromm und heiß,
  Hat mich der Küste, wo man harrt, entzogen,
  Und mich befreit aus jedem andern Kreis.
91 Ihr, die ich so geliebt, ist Gott gewogen,
  Weil sie, der nur der Tugend Reiz gefällt,
  Sich ganz vom Pfad der Andern abgezogen.
94 Der Sarden rauhes Bergesland enthält  94
  Mehr Scham und Sitte noch in seinen Frauen,
Als das, wo ich sie ließ in jener Welt.
97 O süßer Bruder, soll ich dir's vertrauen?
  Ich glaube schon die Zukunft, der das Heut
  Nicht alt erscheinen wird, vor mir zu schauen,
100 Wo man den frechen Frau'n, die ungescheut 100
Den Busen mit den Brüsten offenbaren,
Dies von der Kanzel in Florenz verbeut.
103 Wann mußten Frau'n von Türken und Barbaren,
  Um mit bedeckter Brust einher zu gehn,
Von Staat und Kirche Rügen erst erfahren?
106 Doch könnten nur die unverschämten sehn,
Was ihnen schon der Himmel vorbereitet,
Sie würden heulend, offnen Mundes, stehn.
109

Sie jammern, wenn kein Wahn mich hier verleitet,

Eh' auf des Wange, der jetzt eingelullt
Von Eipopeia wird, sich Flaum verbreitet.
112 Jetzt sprich von dir und zahle mir die Schuld.
Sieh Alle, die dorthin die Augen lenken,
Wo du die Sonne deckst, voll Ungeduld."
115 Und ich versetzt' ihm: ""Willst du deß Gedenken,  115
Was du mit mir einst warst, und ich mit dir,
So wird noch jetzt dich die Erinn'rung kränken.
118 Vor Kurzem hat von dort Er, der vor mir
Als Führer geht, mich mit sich fortgenommen,
Als rund euch schien der Bruder Dieser hier.""  120
121   -  Die Sonne zeigt' ich - ""Mir zum Heil und Frommen
Bin ich durch wahren Todes tiefe Nacht
Mit ihm in diesem wahren Fleisch gekommen.
124 Er hat im Kreislauf mich emporgebracht
Zu diesem Berg, wo die sich grad' erheben,
Die einst das Erdenleben krumm gemacht.
127 Er wird mir sein Geleit so lange geben,
Bis ich gelangt zu Beatricen bin;
Ohn' ihn dann muß ich weiter aufwärts streben.
130 Es ist Virgil"" - hier zeigt' ich nach ihm hin -
"Sieh auch den Andern, und erkenne diesen,
Als den, ob deß der Berg gebebt vorhin,
133 Da euer Reich ihn von sich weggewiesen."

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Vierundszwanzigster Gesang

Erläuterungen:

1-6 Auch hier wieder die Erinnerung: Kein Stillstand - Stillstand ist Rückgang. Dadurch wird auch das Gleichniß V. 3 motivirt.

11 Psalm 51 V. 17: Herr, thue meine Lippen auf, daß mein Mund deinen Ruhm verkündige.

22 Vergl. Anm. zum vorigen Gesange V. 130.

25 Erisichton, von der Ceres, die er verachtete, mit unersättlichem Heißhunger bestraft, zehrte sich am Ende selbst auf.
Ipse suos artus lacero divellere morsu/Coepit, et infelix minuendo corpus alebat.(Ovid, Metam. B. 8 V. 877.)
Mehrere Züge des Hungerbildes, das hier ausgemalt ist, sind aus dieser Erzählung Ovids entlehnt.

28 Sie gleichen den Einwohnern von Jerusalem, als es nach großer Hungersnoth von Titus erobert wurde.

31 Hier ist im Original ein Bild angebracht, das der Uebersetzer, um die Leser nicht dessen zu berauben, in der Anmerkung wiedergeben will, da er es im Texte auf eine dem Style des Ganzen entsprechende Art nicht wiederzugeben wußte. Es heißt im Original: Wer im Menschenantlitz omo ließt, hätte das M dort wohl erkannt. Die beiden O nämlich werden von den Augen, das M aber wird von dem hohen Rande der Augenhöhlen bis zu den Backenknochen herab, und von der Nase, an welche jener Rand nach innen zu von beiden Seiten sich anschließt, gebildet; und dieses M muß um so deutlicher hervortreten, je magerer ein Gesicht ist. Da omo weder ein lateinisches, noch ein italienisches Wort, und jener Gedanke: das im Menschenantlitz das Wort Mensch in irgendeiner Sprache geschrieben stehe, bei uns unbekannt ist - so wird der Zweck des Dichters, ein klares Bild aufzustellen, bei dem deutschen Leser durch eine untreue Uebersetzung besser, als durch eine wörtlich treue erreicht worden sein. Der Ring ohne Gemme dagegen wird in jeder Sprache ein tief eingefallenes Auge lebendig darstellen.

48 Forese, von welchem die Ausleger nichts weiter zu sagen wissen, als daß er aus der Familie Donati, folglich mit Dante verschwägert war. Daß er mit ihm befreundet gewesen, zeigt der Text.

61 Die Sehnsucht nach dem wahren Genusse, zu welcher im Leben die Schwelger vor falschem Genusse nicht gelangen konnten.

79 Forese scheint hiernach durch Krankheit zwar die Fähigkeit, die Lust des Gaumens zu befriedigen, verloren zu haben, nicht aber die Schwelgerei als Laster erkannt und bereut, vielmehr die Rückkehr der verschwundenen Lüsternheit gewünscht zu haben.

83 Dort unten, vor dem Thore des Fegefeuers, wo diejenigen harren, die zu spät ihre Schuld bereuet haben.

86 Meine Nella, eine Abkürzung von Annella, des Namens der Gattin Forese's.

94 Der Sarden rauhes Bergesland, im Original: die Barbagia von Sardinien, eine Gegend im rauhesten Gebirgstheile der Insel, deren Einwohner zu des Dichters Zeit durch rauhe Sitte, die Weiber besonders durch Schamlosigkeit übel berüchtigt waren. Mit demselben Namen belegt er V. 96 die Stadt Florenz, wo Forese's Gattin nach dessen Tode zurückgeblieben war.

100 Die Frauen von Florenz waren damals so schamlos in ihrem Anzuge, daß man dagegen geistliche und weltliche Disciplin eintreten lassen mußte. Diese wirkte so gut, daß sie bald darauf Brust und Hals bis ans Kinn züchtig verhüllten.

115 Biagioli, welcher das von Ludwig dem Achtzehnten für seine übrigens verdienstvolle Ausgabe der göttlichen Komödie erhaltene Geschenk von sechstausend Franken weder durch seine zahllosen unnützen Ausrufungen, noch durch pöbelhafte Grobheiten gegen den würdigen Lombardi, noch durch die dabei angebrachten gemeinen Späße verdient hat, nimmt es den anderen Commentatoren sehr übel, daß sie mit einer teuflichen Erfindung aus obiger Stelle folgern, Dante habe früher mit Forese ein lasterhaftes Leben geführt, und meint, die ganze Sache werde sich wohl auf einige lustige Schmäuschen (liete cenette) und andere leichte Kleinigkeiten dieser Art beschränken, die freilich dort, im Fegefeuer, Gegenstand bitterer Erinnerung sein müßten.

120 Der Bruder Dieser hier, der Mond, als er voll war.