Uebersicht

Das Fegefeuer.

Einundzwanzigster Gesang.

1 Der Durst, den die Natur gegeben hat,
  Den nur das Wasser stillt, um dessen Gnade
  Die Samariterin den Heiland bat,  1-3
4 Verzehrte mich, und auf verengtem Pfade
  Trieb Eile mich, dem Führer nachzuziehn,
  Voll Gram, daß Schuld uns so mit Leid belade.
7 Und sieh, wie Kunde Lucas uns verliehn,  7
  Daß Christus Zween, die unterweges waren,
  Erstanden aus dem Grabgewölb', erschien;
10 So uns ein Schatten - hinter uns, die Schaaren,
  Dort ausgestreckt, betrachtend, ging er fort,
  Und ließ sich sprechend erst von uns gewahren11-12
13 "Gott geb' euch Frieden, Brüder!" war sein Wort,
  Das plötzlich hin zu ihm uns Beide kehrte;
  Und ziemend dankt' ihm mein getreuer Hort,
16 Und sprach: "Zu denen, so der Herr verklärte,
  Versetz' er dich, zu jenem sel'gen Chor,
  Deß Frieden er auf ewig mir verwehrte."  18
19 Und Jener sprach: "Wenn Gott euch nicht erkor,
  Wenn Er euch nicht berief, hinauf zu gehen,
  Wer leitet' euch die heil'ge Stieg' empor?"
22 Virgil darauf: "Sieh hier die Zeichen stehen,  22
  Die diesem eingeprägt vom Engel sind,
  Und daß er auserwählt ist, wirst du sehen.
25 Allein weil Sie, die unablässig spinnt,  25
  Ihm noch nicht ganz den Rocken abgesponnen,
  Den Klotho anlegt, wenn ein Sein beginnt,
28 Hätt' er, allein, die Höhe nie gewonnen,
  Weil seine Seele, Schwester dir und mir,
  Noch nicht nach unsrer Art zu sehn begonnen.
31 Drum bin ich aus dem Höllenschlunde hier,
  Und meine Schule wies und weis't ihm Alles,
  Was sie gewähren kann der Wißbegier.  31-33
34 Doch sprich, was schwankte so gewalt'gen Pralles
  Vorhin der Berg? Was tönte bis zum Strand
  Der allgemeine Ruf so lauten Schalles?"
37 Mein theurer Meister, also fragend, fand
  So meiner Sehnsucht Oehr, daß mein Begehren,
  Mein Durst durch Hoffnung Lind'rung schon empfand38-39
40 Und Jener sprach: "Den Berg, den heil'gen, hehren,
  Nichts trifft ihn sonder Ordnung, was es sei,
  Und ew'ge Regel herrscht in diesen Sphären.
43 Stets ist er hier von jeder Störung frei;
  Wenn einen Geist von ihm Gott aufgenommen,
  Verkünden's Erdenstoß und Jubelschrei.
46 Wer jene kleine Stieg' emporgeklommen  46
  Von dreien Stufen, sieht nicht Reif noch Thau,
  Nicht Hagel mehr, noch Schnee, noch Regen kommen.
49 Kein Wölkchen trübt hier je des Himmels Blau,
  Nie blinkt des Blitzes schnell verschwundne Helle,
  Nie baut sich Iris Brück' auf dunkelm Grau.
52 Kein trockner Dunst steigt über jene Stelle,  52
  Von der ich sprach, auf der die Füße stehn
  Des Pförtners von der diamantnen Schwelle.
55 Von Stürmen, die im Erdenschooß entstehn,
  Mag's sein, daß unten oft der Berg erdröhne,
  Hier - wie? begreif' ich nicht - ist's nie geschehn.
58 Hier bebt er, wenn in neuer Rein' und Schöne  58
  Die Seele fühlt, sie woll' erhoben sein;
  Ihr Steigen fördern dann die Jubeltöne.
61 Der Reinheit Prob' ist dieser Will' allein;  61
  Frei, treibt er sie, zum Zuge sich zu rüsten,
  Und er verleiht ihr sicheres Gedeihn.
64 Erst will sie zwar, doch fühlt auch, mit Gelüsten
  Nach läng'rer Qual, daß, nach Gerechtigkeit,
  Die, so einst sündigten, erst leiden müßten.
67 Ich lag fünfhundert Jahr' in diesem Leid
  Und länger noch, und fühlte mir so eben
  Zum Aufwärtsziehn den Willen erst befreit.
70 Drum fühltest du den ganzen Berg erbeben,
  Drum pries den Herrn die ganze fromme Schaar;
  Er helf' ihr bald, sich selber zu erheben."
73 Sprach's, und je heißer die Begierde war,
  Je mehr fühlt' ich vom Tranke mich erquicken,
  Und fühlte mich gestärkt und frei und klar.
76 Virgil drauf: "Welche Netz' euch hier umstricken,
  Wie ihr entschlüpft, was durch den Berg gezückt,
  Was Jubeltön' empor die Seelen schicken,
79 Das hat dein Wort mir deutlich ausgedrückt,
  Jetzt sage mir: Wer bist du einst gewesen?
  Und was hat hier so lange dich gedrückt?"
82 Drauf Jener: "Damals als das höchste Wesen,  82 ff.
  Das Blut zu rächen, das für schnödes Geld
  Judas verkauft, den Titus auserlesen,
85 Da lebt' ich mit dem Namen, der bei Welt
  Und Nachwelt gilt, geschmückt mit höchstem Preise,
  Doch war noch nicht vom Glaubenslicht erhellt.
88 So süß war den klangreichen Geistes Weise,
  Daß Rom mich Tolosanen rief und hoch
  Mich ehrte mit verdientem Myrtenreise.
91 Mich, Statius, nennt man jenseits heute noch.
  Von Theben hab' ich, vom Achill gesungen,
  Bis unterwegs ich sank dem zweiten Joch.
94 Auch meine Glut ist an der Flamm' entsprungen,  94
  Der göttlichen, die Funken ausgesprüht
Und Tausende mit ihrem Licht durchdrungen.
97 Sie, die Aeneis, ist's, die mich durchglüht,
  Sie nur war Mutter, Amme mir im Dichten,
  Und ohne sie war ich umsonst bemüht.
100 O hätt' ich mit Virgil gelebt! Mit nichten  100
Schien mir's zu schwer, ein Jahr lang noch im Bann
Dafür auf die Befreiung zu verzichten."
103 Bei diesen Worten sah Virgil mich an,  103
  Mit einem Blick, der schweigend sagte: "Schweige!"
Doch weil die Kraft, die will, nicht Alles kann,
106 Nicht hindern kann, daß sich die Seele zeige,
Und, wie durch sie die jähe Regung blitzt,
Thrän' oder Lächeln uns ins Antlitz steige,
109 So blinkt' ich lächelnd mit den Augen itzt,
Drum sah mir jener, dem dies nicht entgangen,
Ins Auge, wo das Bild der Seele sitzt.
112 "So wie du mög'st zum großen Ziel gelangen,"
Begann er drauf, mir zugewandt, "so sprich:
Was blitzt' ein Lächeln jetzt um deine Wangen?"
115 Nun zeigen hier und dorten Schlingen sich
Der heißt mich schweigen, Jener offenbaren.
Ich seufze nur, doch man ergründet mich.
118 "Du magst dir jetzt das längre Schweigen sparen,"
Begann Virgil, "sprich nur, denn er beweist
Zu große Sehnsucht, Alles zu erfahren."
121 ""Vielleicht wohl wundert's dich, du alter Geist.""
Also begann ich jetzo, ""daß ich lachte,
Doch will ich, daß du mehr verwundert seist.
124 Er, der mich aufwärts führt, wohin ich trachte,
Er ist Virgil, der Quell, der deinen Sang
Von Helden und von Göttern strömen machte.
127 Glaubst du, daß andrer Grund des Lachens Drang
In mir erregt, magst du den Glauben lassen;
Es war dein Wort, das mich zum Lachen zwang.""
130 Da neigt er sich, die Knie ihm zu umfassen,
Zu meinem Hort, der sprach:"Laß, Bruder laß!
Wir sind ja Schatten beid', und nicht zu fassen."
133 Und er stand auf und sprach: "Du wirst das Maß
Der Liebe, die mich an dich zieht, begreifen,
Da ich der Körper Mangel ganz vergaß,
136 Und Schatten sucht' als Festes zu ergreifen.

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Zweiundzwanzigster Gesang

Erläuterungen:

1-3 Der Durst, nach Belehrung. Die Samariterin bat den Heiland (Joh. 4 V. 15): Herr, gieb mir dasselbige Wasser, auf daß mich nicht dürste. *

7 Lucas, welcher im 24. Kapitel erzählt, wie Christus den beiden Jüngern erschien, dir nach Emaus gingen.

11-12 Der Schatten, jetzt von dem hier gebüßten Fehler gereinigt, betrachtet noch die Schatten, die dort am Boden liegen, d. h. er erwägt seinen nun abgelegten Fehler und dessen Wirkungen.

18 Weil Virgil, als Heide, nicht zum Paradies eingehen - weil die Vernunft allein nicht zum Höchsten gelangen kann.

22 Die P auf der Stirn.

25 Sie, Lachesis, die Parze.

31-33 Die Vernunft wird den Dichter führen, so weit es ihr gestattet ist. Vergl. Ges. 30 V. 43 ff. und die Anmerkung.

38-39 Virgil fragte genau nach dem, was der Dichter oben zu erfahren wünschte.

46 Erst hinter der Pforte des Fegefeuers, die im neunten Gesange beschrieben ist, beginnt die ewige Ordnung. Vor derselben findet noch die irdische statt. (Vergl. Ges. 7 V. 73 ff. und die dazu gehörige Anmerkung.) Nur Leidenschaft und Sünde, welche das Gesetz der Ordnung umstoßen, bringen den Zufall in die moralische Welt. Da, wo jene aufhören, waltet das unabänderliche Gesetz, wie jenseits der Wolken der ewig blaue Himmel sich wölbt.

52 Durch Dünste entstehen, nach des Dichters Naturlehre, die Winde. (S. die Hölle Ges. 33 V. 104 u. 105.)

58 Nach dem ewigen Gesetz müssen Seelen, welche der Leidenschaft nicht mehr unterthan sind, sich des Glücks der Andern freuen, auch wenn sie selbst ein gleiches Glück noch nicht gewonnen haben. Daher die Erschütterung des Berges und der Jubelklang in der Freude der Büßenden. Das hier entstehende Erdbeben deutet auch vielleicht auf das, welches bei Christi Auferstehung gespürt wurde (Matt. Kap. 28 V. 2), da nur durch die Erlösung die gereinigte Seele zum Himmel emporstrebt.

61 Die Sünde zieht uns abwärts, so lange sie noch nicht ganz abgelegt ist. Bis dahin drängt der alte Hang die besten Vorsätze zurück. Erst mit der gänzlichen Ablegung der Sünde fühlen wir uns völlig frei, und dann erst erwacht der entschiedene, nicht mehr wankende Wille zum Emporsteigen in einen höhern moralischen Zustand. Dieser Wille ist daher der unfehlbare Beweis der vollendeten Läuterung. Das Gelüst, dem Willen entgegen, noch länger hier zu leiden, ist das Gelüst, noch länger zu sündigen, den besten Vorsätzen zum Trotz. So lange daher die sich läuternde Seele noch hier bleiben will, fühlt sie sich noch nicht ganz geläutert, folglich auch noch nicht ganz frei.

82 ff. Publius Papinius Statius wurde wahrscheinlich im Jahre 61 unserer Zeitrechnung in Neapel geboren, und war daher Zeitgenosse des Titus, des Eroberers von Jerusalem, der im Jahre 81 starb. Noch sehr jung kam er nach Rom und erwarb sich durch seine Dichtungen mehrmals den Preis im poetischen Wettstreit und die Gunst Domitians. Sein Hauptwerk ist die Thebais, ein episches Gedicht, in welchem er die Eroberung von Theben besingt. Von einem zweiten, die Acchilleis, hinterließ er nur ein Bruchstück, als er im fünfunddreißigsten Jahre seines Alters starb. Sein Styl ist, so weit es die zum Schwulst sich hinneigende Zeit erlaubte, dem der Aeneis nachgebildet. In seinen Wäldern, einer Sammlung vermischter Gedichte, erfahren wir von ihm selbst, daß er in Neapel geboren sei. Dante, welcher die erst später aufgefundenen Wälder noch nicht kennen konnte, folgt einem alten Commentar zu den Werken des Statius, indem er ihn V. 89 einen Tolosaner nennt.

94 Man möge hierbei an die schon früher erwähnte große Verehrung denken, welche die Aeneis im Mittelalter genoß.

100 So menschlich schön es auch ist, daß Statius erklärt, er wolle, wenn er mit Virgil hätte leben können, noch ein Jahr länger hier dulden, so wird dies doch kaum als dem Orte und den Lehren Cato's entsprechend anerkannt werden können. Der gereinigte Geist kann wohl nicht wünschen, um einer irdischen Erinnerung willen länger vom Höchsten entfernt zu bleiben. (Vergl. die Anm. zu Ges. 2 V. 85 und Ges. 9 V. 94.)

103 In der Scene, welche den übrigen Theil des Gesanges ausfüllt, wird man wohl eine tiefere allegorische Deutung nicht suchen dürfen. Aber man wird bewundern, mit welcher Wahrheit, Schönheit und Eigenthümlichkeit der Dichter hier seinem Werke den Charakter und Reiz des Dramas zu verleihen gewußt hat.