Uebersicht  

Das Fegefeuer.

Siebenzehnter Gesang.

1 Denk, Leser, wenn dich Nebel je umstrickte
  Auf Alpenhöh'n, durch den, wie durch die Haut
  Des Maulwurfs Auge blickt, das deine blickte,
4 Wie, wenn der feuchte Qualm, der dich umgraut,
  Nun dünn wird und beginnt sich zu erhellen,
  Dann matt hinein das Rund der Sonne schaut;
7 Und doch vermagst du kaum dir vorzustellen,
  Wie ich die Sonn' jetzt wiedersah, die sich
  Jetzt eben senken wollt' in's Bett der Wellen.  
10 So, gleichen Schritts mit meinem Hort, entwich
  Ich aus der Wolk', als wie aus dunkler Klause,
  Zum Strahl, der sterbend schon am Strand erblich.
13 O Phantasie, die du aus ihrem Hause
  Weithin die Seel' entrückst, daß man's nicht spürt,
  Ob rings umher Trompetenschall erbrause,
16 Was regt dich auf, wenn nichts den Sinn berührt?
  Das Himmelslicht erregt dich, das hernieder
  Von selber strömt, das auch ein Wille führt.  13-18
19 Die Arge sah ich, die sich im Gefieder   19
  Des Vogels barg, der ewig Reu' und Gram
  Verhaucht im Klang der süßen Klagelieder.
22 Und ganz zurückgedrängt ward wundersam
  Hier meine Seel' in sich, zu nichts sich neigend
  Und nichts aufnehmend, was von außen kam.
25 Darauf erschien, der Phantasie entsteigend,   25
  Ein Mann am Kreuz, so trotzig stolz, wie er
  Im Leben war, sich auch im Tode zeigend.
28 Ich sah dabei den großen Ahasver,
  Esther, sein Weib, und Mardochai, den Frommen,
  In Wort und That so ganz, rund um ihn her,
31 Und dieses Bild zersprang, kaum wahrgenommen,
  Gleich einer Blase, die mit kurzem Schein
  Im Wasser glänzt, wenn sie emporgeschwommen.
34 Dann zeigte mein Gesicht ein Mägdelein.  34
  "O Fürstinn, Mutter!" rief die Thränenvolle,
  "Was wolltest du aus Zorn vernichtet sein!
37 Du starbst, daß dein Lavinia bleiben solle.
  Bin ich nun dein? Nicht Andrer Tod, es zwingt
  Der deine mich zu bittrem Thränen-Zolle."
40 Gleich wie der Schlaf in jähem Schreck zerspringt,
  Wenn Strahlen an des Schläfers Antlitz prallen,
  Doch eh' er ganz erstirbt, sich sträubt und ringt,
43 So sah ich jetzt mein Traumbild niederfallen,
  Als mir ein Licht ins Antlitz schlug, so klar,
  Wie's nie zur Erde strömt aus Himmelshallen.
46 Ich wandte mich, zu sehen, wo ich war,
  Als eine Stimm' erklang: "Hier müßt ihr steigen!"
  Und ich vergaß des Andern ganz und gar.
49 Sie zwang den Willen, sich dorthin zu neigen,
  Zu sehn, wer sprach, und ließ, bis ich belehrt,
  Die Unruh' nicht in meinem Innern schweigen.
52 Wie von der Sonne, die den Blick beschwert,
  Durch zu viel Licht ihr eignes Bild bedeckend,
  Ward von dem Glanze meine Kraft verzehrt,
55 "Ein Himmelsbot' ist's, uns den Weg entdeckend,
  Der aufwärts führt, auch ohne daß wir flehn,
  Und selber sich in seinem Licht versteckend.
58 Wie wir uns selber thun, ist uns geschehn;   58
  Denn wer die Noth erblickt und harrt der Bitte,
  Ist böslich schon geneigt, sie zu verschmähn.
61 Auf! solchem Rufe nach mit raschem Tritte!
  Wir müssen aufwärts, eh' das Dunkel naht,
  Sonst lös't der Tag erst die gehemmten Schritte."  61-63
64 Mein Führer sprach's, worauf zum Felsgestad'
  Wir, hingewandt nach einer Stiege, gingen,
  Und wie ich auf die erste Stufe trat,
67 Fühlt' ich ein Weh'n, wie von bewegten Schwingen  67
  Im Angesicht, und laut erklang's, mir nah':
  "Heil den Friedfert'gen, die den Zorn bezwingen."
70 Der Sonne letzte bleiche Strahlen sah
  Ich über uns, gefolgt von nächt'gen Schatten.
  Und schon erschienen Sternlein hier und da.
73 ""O meine Kraft, was mußt du so ermatten!""   73
  So dacht' ich still bei mir, denn ich empfand,
  Daß sich entstrickt der Füße Nerven hatten.
76 Wir waren auf der höchsten Stufe Rand,
  Und standen fest, wie angeheftet, dorten,
  Gleich einem Kahn in des Gestades Sand.
79 Aufmerksam lauscht' ich erst nach allen Orten,
  Ob nichts zu hören sei, und wandte nun
  Zu meinem Meister mich mit diesen Worten:
82 ""Mein süßer Vater, sprich, welch übles Thun
  Führt uns zur Läuterung in diesem Kreise?
  Laß nicht die Rede, gleich den Füßen, ruhn.""
85 "Trägheit zum Guten," sprach darauf der Weise,
  Zahlt hier die dort gemachten Schulden erst;
  Hier wird der träge Rudrer schnell zur Reise,
88 Merk' auf, damit du's deutlicher erfährst,
  Weil ungenutzt sonst unser Stillstand bliebe -
  Frucht bringt dein Weilen, wenn du dich belehrst.
91 Nicht Schöpfer, noch Geschöpf ist ohne Liebe,  91ff.
  Noch war es je. Du weißt, in der Natur
  Und in der Seel' entkeimen ihre Triebe.
94 Nie irrt die erste von der rechten Spur.
  Die zweite kann im Gegenstande fehlen,
Und bald zu stark sein, bald zu lässig nur.
97 Weiß sie zum Ziel das erste Gut zu wählen,
  Ist sie beim zweiten nicht zu heiß, zu kalt,
  Dann reizt sie nicht zu schlechter Lust die Seelen.
100 Doch schweift sie ab zum Bösen, ist sie bald
Zum Guten lau, zu eifrig bald im Rennen,
So thut dem Schöpfer das Geschöpf Gewalt.
103 So muß die Liebe, wie du wirst erkennen,
  In euch die Saat zu jeder Tugend streu'n,
Doch auch zu Allem, was wir Laster nennen.
106 Nun, weil ob ihres Gegenstands sich freu'n
Die Liebe muß, an dessen Heil sich weiden,
Drum hat kein Ding den eignen Haß zu scheu'n.
109 Und weil kein Sein sich kann vom Ursein scheiden
Und ohne dieses für sich selbst bestehn,
Muß dies zu hassen jeder Trieb vermeiden.
112 Drum kannst du, folgr' ich richtig, deutlich sehn:
Dem Nächsten gilt die Liebe nur zum Schlimmen,
Und kann aus dreifach schmutz'gem Quell entstehn.
115 Der hofft zur Herrlichkeit empor zu klimmen
Durch Andrer Fall, und dieses muß zur Lust,
Die Größe zu erniedrigen, ihn stimmen.
118 Der Gunst, des Ruhmes und der Macht Verlust
Scheut der, wenn sich ein Andrer aufgeschwungen,
Und liebt das Gegentheil mit banger Brust.
121 Der ist entrüstet von Beleidigungen,
Drob Durst nach Rach' in ihm sich offenbart,
Bis ihm dem Andern weh zu thun gelungen.
124 Ob dieser Liebe von dreifacher Art
Weint man dort unten - jetzt vernimm von Liebe,
Die nicht durch rechtes Maß geregelt ward.
127 Nach einem Gute strebt mit dunklem Triebe
Der Mensch, und fühlt, daß seiner Wünsche Glut,
Erreicht er's nicht, ihm unbefriedigt bliebe.
130 Die träge Lieb' ist's zu dem wahren Gut,
Die säumt, es zu erschau'n, es zu erringen,
Die hier nach ächter Reue Buße thut.
133 Gut scheinen andre Güter, doch sie bringen
Nicht wahres Glück, sind Stoff und Wurzel nicht,
Aus welchen Früchte wahren Heils entspringen.
136 Die Lieb', auf solches Gut zu sehr erpicht,
Büßt in drei Kreisen oberhalb mit Zähren;
Doch wie sie dreifach irrt von Recht und Pflicht,
139 Das sollst du selbst dir suchen und erklären."

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Achtzehnter Gesang

Erläuterungen:

13-18 O Phantasie etc. Der Dichter leitet mit diesem Ausrufe die Vision ein, die er uns in den nächsten Terzinen erzählt, und erklärt die wunderbare Erscheinung, das die Phantasie, ohne durch einen äußern sinnlichen Eindruck erregt zu sein, uns aus uns selbst zu dem Fremdartigsten führe, durch das himmlische Licht, welches das Universum durchströmt und oft nach Gottes Willen auch einen Gegenstand besonders erleuchtet.

19 Es folgen Beispiele verderblicher Wirkungen des Zorns. - Progne bewog nach einer alten, von neueren Dichtungen abweichenden Sage, ihren Gemahl Tereus, als er nach Athen reisete, ihre Schwester Philomele mitzubringen. Dies geschah, aber unterwegs that Tereus seiner Schwägerin Gewalt an. Ob er gleich, damit sie sein Verbrechen nicht ausplaudere, ihr die Zunge ausschnitt, wußte doch Philomele durch ein Gewebe ihre Schwester von dem Vorgefallenen zu benachrictigen. Aus Zorn über des Gemahls Verbrechen und der Schwester Schande schlachtete sie mit der letztern gemeinschaftlich ihren mit dem Tereus erzeugten Sohn Itys, und setzte sein Fleisch dem Vater vor. Als dieser, die Wahrheit entdeckend, sie tödten wollte, flehte sie die Götter um Hülfe an, und wurde in eine Nachtigall verwandelt, um ewig ihren Sohn zu beklagen. Philomele aber ward zur Schwalbe, und girrt nun mit verstümmelter Zunge kurz abgebrochene Laute.

25 Ein Gekreuzigter, Haman (s. das Buch Esther).

34 Lavinia, Tochter der Amata, die sich aus Zorn und Verzweiflung erhenkte, als sie glaubte, daß Aeneas den Turnus, ihrer Tochter Verlobten, getödtet habe, und nun die Tochter selbst ihr rauben werde. Aeneis XII.

58 Der Engel har für uns so gesorgt, wie wir für uns selbst zu sorgen pflegen, aus eigenem Antrieb und ohne eine Bitte zu erwarten.

61-63 Ueber die Nothwendigkeit des Lichtes zum Vorwärtsschreiten vergl. Ges. 7. V. 44 ff.

67 Dieses Wehen entsteht durch die Flügel des Engels, durch welches wieder ein P verlöscht ist.

73 Die Ermattung tritt ein, weil das Licht, die Klarheit schwindet, die allein zum Guten Kraft und Ausdauer verleiht.

91 ff. Der Dichter giebt in den folgenden Versen das Bild der moralischen Construction des Fegefeuers, wie er uns das der Hölle im eilften Gesange des ersten Theils gegeben hat. Um dies zu bewirken, stellt er folgende Doctrin auf. Die Liebe ist eine doppelte: die natürliche, der Instinkt, und die der Seele, welche von dem durch den freien Willen geleiteten Streben erzeugt wird. Die erste ist unfreiwillig, aber daher auch sicher ihres Gegenstandes. Die zweite wählt bald einen falschen Gegenstand, bald verfolgt sie den rechten Gegenstand ohne Maß, zu träg oder zu heftig. Wählt sie das erste, d. h. das hauptsächliche, das himmlische Gut, und strebt sie nach dem zweiten Gute, d. h. nach irdischem Glücke, mit Maß und Ordnung, dann führt sie zur Tugend, im entgegengesetzten Falle aber zum Laster, welches eine Gewaltthat gegen den Schöpfer ist, der uns zum Guten und zur Freude bestimmte. (Vergl. Ges. 16 V. 67 ff. und die Anmerkung.) Die irre geleitete Liebe, welche zum Hasse führt, kann der Mensch nun weder gegen sich (V. 106-108), noch gegen Gott richten (109-111), weil dies dem natürlichen Triebe ganz entgegen sein würde. Die Liebe zum Schlimmen gilt daher nur dem Nächsten. Sie führt zum Hochmuthe (V. 115-117), zum Neide (V. 118-120) und zur Zornwuth (V. 121-123). Diese Liebe, von welcher die Schatten in den drei ersten Kreisen sich läutern, fehlt in der Wahl des Gegenstandes. Weiter oben werden diejenigen geläutert, deren Liebe nicht das rechte Maß hielt, zunächst diejenigen, die in der Liebe zum ersten Gute, dem Göttlichen zu lau, weiterhin diejenigen, die in dem Streben nach irdischen Gütern zu heftig waren. - Wir haben die Doctrin des Dichters dargestellt, und überlassen es dem Scharfsinne der Leser, die Einwendungen zu finden, welche sich gegen dieselbe machen lassen dürften.