Uebersicht

Das Fegefeuer.

Funfzehnter Gesang.

1 So viel, als bis zum Schluß der dritten Stunde,
Vom Tagsbeginn des Wegs die Sphäre macht,
Die wie ein Kindlein tanzt im ew'gen Runde,
4 So viel des Weges hatt', eh' noch vollbracht
Ihr Tageslauf, die Sonne zu vollbringen; 1-5
Dort war es Vesperzeit, hier Mitternacht. 6
7 Auf jenen Pfaden, die den Berg umringen,  7
Schien uns die Sonne mitten ins Gesicht,
Weil wir gerade gegen Westen gingen,
10 Da fiel ein Glanz mit lastendem Gewicht  10
Mir auf die Stirn, mich mehr, als erst, zu blenden.
Ich staunt', und was es war, begriff ich nicht.
13 Schnell deckt' ich mir die Augen mit den Händen,
Als wie mit einem Schirm, daß vor der Glut
Die schwachen Blicke Schutz und Ruhe fänden.
16 Gleichwie der Strahl vom Spiegel von der Flut
Nach jenseits hüpft, und dann beim Aufwärtssteigen,
So wie vorher beim Niedersteigen thut,
19 Weil er von Linien, die sich senkrecht neigen,
So hier, wie dort abweicht in gleichem Zug,
Wie uns die Kunst und die Erfahrung zeigen;
22 So ward mein Auge jetzt in jähem Flug
Getroffen vom zurückgeworfnen Lichte,
Drob ich's in Eile schloß und niederschlug. 13 - 24
25 ""Was, süßer Vater, ist dies? dem Gesichte
Will, was ich thue, nicht zum Schutz gedeihn.
Es scheint, als ob der Glanz hierher sich richte!
28 Drauf Er: "Nicht staune, wenn in solchem Schein 28 - 31
Noch blendend dir des Himmels Diener nahen.
Ein Bote kommt und läd't zum Steigen ein,
31 Bald wird, was erst die Augen thränend sahen,
Dir so zur Lust, als du nur Fähigkeit,
Sie zu empfinden von Natur empfahen."
34 Der Engel sprach zu uns voll Freudigkeit:
"Geht dorten ein auf minder schroffen Stiegen,  35
Als jene sind, die ihr gestiegen seid."
37 Indem wir nun zusammen aufwärts stiegen,
Sang's hinter uns: "Heil dem Barmherz'gen, Heil!"  38
Und wieder klang's: "Sei froh in deinen Siegen!"  39
40 Und da wir Beid' allein, und minder steil
Die Treppen waren, dacht' ich: Noch im Gehen
Wird Lehre wohl vom Meister dir zu Theil.
42 ""Was mochte Guido bei dem Gut verstehen,
Das Ausschluß der Genossenschaft gebeut?""  43
Ich sprach's, gewandt, ihm ins Gesicht zu sehen.
46 "Weil stets sein Hauptfehl ihm den Schmerz erneut,"
Sprach drauf Virgil, "will er dich weiser machen,
Und tadelt drum, was er nun schwer bereut.
49 Denn euer Sehnen geht nach solchen Sachen,
Die Mitbesitz verringert, die durch Neid
In eurer Brust der Seufzer Glut entfachen,
52 Doch möchten in des Himmels Herrlichkeit
Des Menschen Wünsch' ihr rechtes Ziel erkennen,
Wär' eure Brust von solcher Angst befreit.
55 Je Mehrere dies Gut ihr eigen nennen,
Je mehr besitzt des Guts ein Jeder dort,
Je stärker fühlt er sich in Lieb' entbrennen."
58 ""Noch fass' ich nichts,"" versetzt' ich meinem Hort,
Und mindre Zweifel hat vorher das Schweigen
In meiner Seel' erweckt, als jetzt dein Wort.
61 Kann höher je der Reichtum Vieler steigen,
Wenn man ein Gut vertheilt, als wenn es nicht
Gemeinsam wäre, sondern Einem eigen?""
64 Und Er: "Weil, nur auf Erdengut erpicht,
Dein Geist noch nicht den höhern Flug gewonnen,
Drum schöpfst du Finsterniß aus wahrem Licht.
67 Des Himmels unaussprechlich große Wonnen,
Sie eilen so ins liebende Gemüth,
Wie nach dem Spiegel hin der Strahl der Sonnen.
70 Sie geben sich je mehr, je mehr es glüht,
Und reicher strömt die ew'ge Kraft hernieder,
Je freudiger des Herzens Lieb' erblüth.
73 Erhebt die Seel' erst aufwärts ihr Gefieder,
Dann liebt sie mehr, jo mehr zu lieben ist,
Denn Eine strahlt den Glanz der Andern wieder. -
76 Und g'nügt mein Wort dir nicht, in kurzer Frist  76
Wird dort von dir Beatrix aufgefunden,
Durch welche du dann ganz befriedigt bist.
79 Jetzt sorge nur, daß bald von deinen Wunden  79
Die fünf sich schließen, wie das erste Paar;
Sie schließen sich, wenn du ihr Weh empfunen."
82 Schon wollt' ich sagen: Deine Red ist klar!
Da war ich an des andern Kreises Saume,
Wo schnell mein Wort gehemmt durch Schaulust war.
85 In einen Tempel schien, von wachem Traume  85
Dahingerissen, meine Seel' entflohn,
Und Leute sah ich viel in seinem Raume.
88 Am Eingang schien mit süßem Mutterton 88
Und zärtlicher Geberd' ein Weib zu sagen:
"Was hast du dies an uns getahn, mein Sohn?
91 Wir suchten dich voll angst seit dreien Tagen,
Ich und der Vater" - sprach's und wundersam
Schien sie vom Wehn der Luft davongetragen.
94 Drauf vors Gesicht mit eine zweite kam94
Von Zähren naß, die, - wohl war's zu erkennen -
Dem Aug' entpreßte zornerzeugter Gram.
97 Sie rief: "Willst du den Herrn der Stadt dich nennen,
Ob deren Namen Götter sich gegrollt,  98
Wo Strahlen jeder Wissenschaft entbrennen,
100 Dann, Pisistrat, zahl' ihm der Frechheit Sold,
Der's wagte, deine Tochter zu umfassen!"
Allein der Herr, der liebreich schien und hold,
103 Entgegnet' ihr, die also rief, gelassen:
"Wird Jener, der uns liebt, von uns verdammt,
Was thun wir dann an solchen, die uns hassen?
106 Dann sah ich eine Schaar, von Zorn entflammt,
Und einen Jüngling dort, von ihr gesteinigt,
  Todt! Todt! so schrie'n sie wüthend allesamt.  108
109 Er beugte sich, schon bis zum Tod gepeinigt,
Deß Last ihn zu der Erde niederrang,
Doch seinen Blick dem Himmel stets vereinigt;
112 Und fleht' empor zu Gott in solchem Drang:
"Vergieb der Wuth, die gegen mich entbrannte!"
Mit einem Blicke, der zum Mitleid zwang.
115 Als meine Seele sich von außen wandte,  115
Zurück zu dem, was wahr ist außer ihr,
Und ich nun den nicht falschen Wahn erkannte,
118 Da sprach mein Führer, der, nicht weit von mir,
Mich gleich dem Schläfer, der erwacht, erblickte:
"Nicht halten kannst du dich! Was ist's mit dir?
121 Bereits seit einer halben Stunde knickte
Dein Knie, du taumeltest, dein Auge brach,
Als ob dich Schlummer oder Wein bestrickte."
124 ""O süßer Vater, hörst du's an"" - dies sprach
Ich drauf zu ihm - ""so will ich dir verkünden,
Was mir erschien, als mir die Kraft gebrach.""
127 "Ob mir entgegen hundert Masken stünden,"
Entgegnet' er, "und deckten dein Gesicht,
Doch würd' ich, was du denkst, genau ergründen.
130 Das, was du sahst, du sahst's, damit du nicht
Dich ungemahnt verschlössest jenem Frieden,
Deß Strom hervor aus ew'ger Quelle bricht.
133 Was ist dir? fragt' ich nicht, wie der danieden
  Zu fragen pflegt, deß Auge nicht mehr schaut, 134
  Sobald die Seel' aus seinem Leib geschieden.
136 Die Füße dir zu kräft'gen, fragt' ich laut,
Denn treiben muß man so den wachen Trägen,
Den Tag zu nützen, eh' der Abend graut."
139 Wir gingen Beid' in sinnigem Erwägen 140
  Dem Abend zu, und sahn, so weit man kann
  Der Sonne tiefem Strahlenglanz entgegen.
142 Und sieh, ein Rauch kam nach und nach heran,
  Der, schwarz wie Nacht, sich bis zu uns erstreckte,
  Und nirgends traf man Raum zum Weichen an, 144
145 Daher er bald uns Aug' und Himmel deckte.

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Sechzehnter Gesang

Anmerkungen:

1-5  Die Sphäre, das ganze nach dem damaligen System sich drehende Himmelsgebäude, tanzt nach des Dichters Gleichniß scherzend wie ein Kindlein. Dies Gleichniß ist lebhaft getadelt und ebenso gelobt worden. Dem Uebersetzer scheint es wenigstens nicht so treffend richtig, wie sonst fast alle Gleichnisse des Dichters, da zwischen der ungleichen launigen Bewegung des Kindes und dem ruhigen, immer gleichen Wandeln der Sterne keine Aehnlichkeit gefunden werden mag. Die ganze Stelle bedeutet in kurzer Prosa: bis zu Sonnenuntergang waren noch drei Stunden des Tags übrig.

6  Dort, auf dem Berge des Fegefeurs, hier in Italien, wo der Dichter schrieb. Daß diese Berechnung nicht ganz richtig ist, wird man finden, wenn man ermittelt, um wie viele Grade der Länge Italien westwärts von Jerusalem liegt.

7  Die Sonne schien mitten ins Gesicht (im Original mitten auf die Nase), weil sie schon sich senkte, und die Dichter ihr entgegengingen.

10  Das Licht des Engels ist stärker als das der Sonne. Es fällt nicht,wie das der letztern, mitten ins Gesicht, sondern auf die Stirn, weil es aus den höchsten Sphären kommt. Die Bedeutung spricht sich von selbst aus.

13 - 24 Dante deckt sich die Augen, indem er die Hände wie einen Schirm darüber hält. Aber dies schützt ihn nicht gegen die Wirkung des Lichts, weil es, im rechten Winkel herab- und wieder emporsteigend, ihm von unten entgegenblitzt. Er muß daher die solchen höhern Lichtes noch ungewohnten Augen schließen.

28 - 31 Alle Lust, zu welcher die Natur dich nur fähig gemacht hat, wirst du künftig empfinden, wenn dein gestärktes Auge das erblickt, was dich jetzt noch blendet.

35 Schon nach den ersten Fortschritten zur Reinigung von der Sünde scheint der Weg zum weitern Steigen minder steil und beschwerlich.

38 Heil den Barmherz'gen etc. Christi Worte Ev. Matth. Kap. 5 V. 7: "Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen."

39 Sei froh in deinen Siegen. Beziehung auf V. 12: "Seid fröhlich und getrost, es wird euch im Himmel belohnet werden," hier angewendet auf diejenigen, welche den Neid durch die Läuterung überwunden haben.

43 Vergl. Ges. 14 V. 86. Die außerordentlich schöne Stelle bis V. 75 ist so klar, daß sie, ungeachtet ihrer Tiefe, keiner Erläuterung bedarf.

76 Man vergesse nicht, das Virgil die Vernunft, Beatrix aber die höhere Weisheit repräsentirt, die nur durch den Glauben gefunden werden kann. Erst durch den Glauben wird der Unterschied zwischen den irdischen Gütern, welche der Mitbesitz verringert, und den himmlischen, die um so reicher machen, je mehr man sie theilt, ganz deutlich werden. Die Vernunft allein vermag hier nicht volle Klarheit zu geben.

79 Die Wunden, die mit dem Schwerte eingeschnittenen P, welche die Sünden bedeuten. Sie schließen sich, wenn sie schmerzen, d. h. wenn man die Sünden erkennend, Reue und Leid empfindet.

85 Hier folgen Bilder der dem Zorn entgegengesetzten Tugend, der liebevollen Gelassenheit bei Anlaß zum Zorn. Daß eben hier die Bilder im Traum erscheinen, deutet wohl auf den unklaren, traumartigen Zustand, in welchen uns der Zorn versetzt.

88 Maria trifft Christum im Tempel, nachdem sie ihn drei Tage gesucht. Luc. 2 V. 41-49.

94 Pisistratus, als er sich zum Herrn Athens gemacht, bediente sich der errungenen Gewalt mit äußerster Milde. Ein junger Grieche hatte, nach Valerius Maximus, des Herrschers Tochter öffentlich geküßt. Wie dieser seiner Gemahlin, welche Rache für solche Beleidigung verlangte, widerstand, sagen die folgenden Verse.

98 Neptun und Athene stritten sich, wer der Stadt den Namen geben sollte. Der erstere schenkte deshalb das Pferd, aber die letztere siegte durch das werthvollere Geschenk des Oelbaums.

108 Die Steinigung des heil. Stephanus.

115 Was er sah, war zwar ein Traum, aber kein Wahn. In seinem Innern war dem Dichter in voller Wahrheit das schöne Bild der Sanftmuth erschienen. Aber diese innere Beschauung allein bereitet die Förderung nur vor. Vorwärts kommt der Mensch nur, indem er den Geist wieder nach außen wendet. Dazu fordert den Dichter die Vernunft auf, die wohl erkannt hat, was in ihm vorgegangen ist.

134 Nicht wie ein Mensch, der nur mit dem irdischen Auge sieht, welches seine Sehkraft im Tode verliert, und der da fragt, um dasjenige zu erfahren, wonach er fragt. Virgil erkannte den Zustand des Dichters, und fragte daher nur aus dem V. 136-138 angegebenen Grunde.

140 So weit man kann, weil man, wenn man der Abendsonne entgegengeht und ihre Strahlen uns ins Auge blitzen, nicht weit sehen kann.

144 Man trifft keinen Raum zum ausweichen, weil, wie man sich aus der oben gegebenen Beschreibung des Orts erinnern wird, der schmale Vorsprung, der den Weg um den Berg herum bildet, auf der einen Seite vom leeren Raume, auf der andern von der steilen Felsenwand begränzt wird.