Uebersicht   

Das Fegefeuer.

Zwölfter Gesang.

1 Gleichmäßïg, wie zwei Stier' im Joche ziehn, 1
  Ging ich dem schwerbeladnen Geist zur Seiten,
  So lang' es gut dem süßen Lehrer schien.
4 Doch als er sprach: "Laß ihn, um vorzuschreiten,
  Hier gilt's, so viel man immer kann, den Kahn
  Mit Segeln und mit Rudern fortzuleiten!"
7 Da richtet' ich mich auf zur weitern Bahn
  Mit meinem Leib, obwohl gebeugt und bange 8
  Des Geistes Blicke noch zu Boden sahn,
10 Und folgte meinem Hort im regen Drange
  Der Wißbegier, und beide zeigten wir,
  Wie leicht wir waren, schon im raschen Gange12
13 Bis daß er sprach: "Zu Boden blicke hier,
  Um, was dein Fuß beschreitet, zu gewahren,
  Denn zu des Weges Kürzung frommt es dir."
16 Wie, um der Freund' Erinn'rung zu bewahren,
  Auf ird'schen Gräbern dargestellt erscheint,
  Was, die drin ruhen, einst im Leben waren,
19 So daß bei diesem Anblick Jeder weint,
  Wenn die Erinn'rung schmerzt in frischer Wunde,  20
  Die den nur spornt, der's fromm und redlich meint;
22 So wies der Vorsprung mir, der in der Runde
  Den Pfad dort bildend, jenen Berg umschloß,
  Manch Bild, doch trefflicher, auf seinem Grunde.  24
25 Ihn, edler, als was je der Erd' entsproß, 25
  Erschaffen, sah ich, welcher mit der Eile
  Des Blitzes hier vom Himmel niederschoß.
28 Dort aber auf des Weges anderm Theile,  28
  In starrem Todesfrost und träg und schwer,
  Lag Briareus, durchbohrt vom Himmelspfeile.
31 Mars, Phöbus, Pallas standen hoch und hehr,
  Auf die zerstreuten Riesenglieder sehend,
  Bewaffnet noch um ihren Vater her.
34 Am Fuß des großen Werks den Nimrod stehend,  34
  Erblickt' ich dann, und wie verwirrt und toll
  Nach den Genossen seiner Arbeit spähend.
37 Dich, Niobe, dich sah ich jammervoll,  37
  Hier sieben Kinder todt, dort andre sieben;
  Wie jedem Aug' ein Thränenstrom entquoll.
40 O Saul, du schienst, in's eigne Schwert getrieben40
  Todt, wie auf Gilboa, das seit der Zeit
  Von Thau und Regen unbenetzt geblieben.
43 Arachne, Thörin, einst voll Eitelkeit,  43
  Halb Spinn' jetzt, auf den Fetzen vom Gewebe,
  Das du, o Arme, wobst zu deinem Leid.
46 Rehabeam - es schien, als ob er bebe46
  Als ob er, statt wie immer sonst zu drohn,
  Im Wagen flüchtig, unverjagt, entschwebe.
49 Man sah Eriphylen sich mit dem Lohn,  49
  Für den Verrath am Gatten, frevelnd schmücken,
  Doch theuer macht' ihr das Geschmeid' ihr Sohn.
52 Sah den Sennacherib - im Tempel zücken  52
  Auf ihn die Söhn' ihr Schwert voll Frevelmuth,
  Und kehren dem Erschlagnen dann den Rücken.
55 Des Cyrus Tod und der Tomyris Wuth -  55
  Sie schien zum abgeschnittnen Haupt zu sagen:
  Dein Durst war Blut, nun füll' ich dich mit Blut.
58 Dann der Assyrer Heer - es floh, geschlagen,
  Nach Holofernes Tod, und hinterdrein
  Verfolgt der Feind noch die, so nicht erlagen.
61 O Ilion, wie niedrig und wie klein!
  Wohl standest du auf Troja's Fluren dreister,
  Als hier, in Asch' und Schutt, auf dem Gestein!  58-63
64 Wer war des Griffels und des Pinsels Meister,
  Der Formen und Geberden ausgedrückt
  Selbst zur Bewunderung der feinsten Geister?
67 Mir schien, wie ich dahin ging, tief gebückt,
  Was todt war, todt, was lebend war, zu leben,
  Nicht besser hat's, wer's wirklich sah, erblickt.
70 Stolziert nur hin, fahrt fort, das Haupt zu heben,
  Senkt nicht den Blick, ihr, Evens Söhn', er weist
  Euch sonst den schlechten Weg, das eitle Streben! -
73 Schon hatten wir vom Berge mehr umkreist,
  Schon war die Sonne weiter fortgegangen,
  Als ich bemerkt' mit dem befangnen Geist;
76 Als Er, deß Fuß und Seele vorwärts drangen,
  Begann: "Blick' auf, erhebe Haupt und Sinn!
  Nicht ist's mehr Zeit, den Bildern anzuhangen.
79 Ein Engel naht - drum blick' empor, dorthin!
  Schon kehrt, von schnellen Fittigen getragen,
  Zurück des Tages sechste Dienerin. 81
82 Schmück' jetzt mit Ehrfurcht Antlitz und Betragen,
  Dann führt er wohl mit Freuden uns empor.
  Denk', nie wird dieser Tag dir wieder tagen."
85 Und da er mich ermahnt schon oft zuvor,
  Die Zeit zu nutzen, kam es, daß ich nimmer
  Den Sinn, den solch ein Wort verschloß, verlor.
88 Das schöne Wesen naht' - ein weißer Schimmer
  War sein Gewand; dem Stern des Morgens war
  Sein Antlitz gleich an zitterndem Geflimmer.
91 Die Arm' erschloß er, dann das Flügelpaar,
  Und sprach: "Kommt jetzt, denn nahe sind die Stufen
  Und leicht erklimmt ihr sie und ohne Fahr.
94 Nur Wen'ge nahn von Vielen, die berufen.
  O Mensch, du fällst bei jedes Windes Wehn,
Du, den zum Aufflug Gottes Händ' erschufen."
97 Bald ließ er uns des Felsens Oeffnung sehn.
  Dort schlug er meine Stirn mit seinem Flügel
  Und hieß mich dann gesichert weiter gehn.
100 Wie ob der Stadt, die ihrer Herrschaft Zügel  100
So wohl zu führen weiß nach Recht und Pflicht,
Am Weg zur Kirche, rechts am steilen Hügel,
103 Den kühnen Schwung des Bergs die Treppe bricht,
  Die man gebaut in jenen guten Zeiten,
Wo sicher war das Maß und das Gewicht;
106 So war der Fels durch Stufen zu beschreiten,
Obwohl er jäh sich senkt als steile Wand,
Doch streift man das Gestein von beiden Seiten.
109 Laut klang's, indem ich dort mich aufwärts wand,
"Den geistlich Armen Heil!" - mit einem Sange,  110
Wie ich so süß noch keinen je empfand.
112 Wie anders war es hier, als bei dem Gange
Durch's Höllenreich. Bei Liedern klomm ich auf
Und dort hinab bei wildem Jammerklange.
115 Die heil'gen Stiegen klommen wir hinauf,
Und leichter schien mir's hier, empor zu kommen,
Als erst auf ebner Bahn der leichtste Lauf.
118 ""Sprich Meister, welche Last ist mir entnommen,""
So rief ich, da ich dies bemerkt, zuletzt,
""Daß ich fast mühelos empor geklommen?""
121 Und Er: "Sind diese P, die zwar noch jetzt 121
Dein Antlitz trägt, doch die schon halb verschwinden,
Erst, wie das Eine völlig ausgewetzt,
124 Dann wird den Fuß dein Streben überwinden,
So daß ihm Klimmen keine Mühe macht,
Ja, Wonne wird er dann im Steigen finden."
127 Da that ich Jenen gleich, die, sonder Acht127
Etwas mit sich am Haupte tragend, gehen,
Bis sie bemerkt, daß man sich winkt und lacht:
130 Drum sie die Hand gebrauchen, um zu spähen,
Mit dieser suchen, finden und damit
Zuletzt erschau'n, was nicht die Augen sehen.
133 Denn mit den ausgespreizten Fingern glitt
Ich an der Stirne hin, und sieh, vergangen
War eins der Zeichen, das der Engel schnitt.
136 Da schwebt' ein Lächeln um des Meisters Wangen.

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Dreizehnter Gesang

Erläuterungen:

1  Man denke sich den Schatten, der hier erst lernt, den stolzen Nacken zu beugen, von der Last tief niedergedrückt, und den Dichter, der freiwillig sich gleich tief beugt, um keines seiner Worte zu verlieren, und ihm beim Gespräch wo möglich ins Gesicht zu sehen, und man wird auch hier, wie an so vielen Orten, ein bewegtes Bild mit wenigen Worten meisterhaft ausgemalt finden.

8  Wir werden in der Folge sehen, daß dem Dichter sein Gewissen sagt, er habe Ursache, diesen Kreis und die Lasten, die man in ihm trägt, zu fürchten. (S. Ges. 13 V. 136.)

12  Leicht, durch die Befreiung von einem Hauptfehler, dem Hochmuthe. S. V. 118.

20  Der Schmerz der Erinnerung an geliebte Todte, aufgefrischt durch äußere oder innere Veranlassung, spornt nur den, welcher frommen Gemüths ist, zum Fortschreiten auf dem Wege der Veredlung an.

24  Die Bilder begnadigter Demuth waren aufrechtstehend an der Seite des Felsen, die Bilder gestürzten Hochmuths sind am Boden - nicht ohne selbst sich aussprechende Bedeutung. Vgl. auch V. 70. Die Bilder sollen den Blick des Hochmüthigen auf den Boden leiten, folglich demüthig machen.

25  Satan, der Engel, welchen Gott für seinen Stolz aus dem Himmel verstieß.

28 Briareus, der hundertarmige Riese, focht im Kriege zwischen den Titanen und Göttern für die letzten und zerschmetterte mit Felsstücken ihre Feinde. Er scheint hier mit den Titanen verwechselt, die er erlegte.

34 Am Fuße des babylonischen Thurms, welchen Nimrod's Stolz bis zum Himmel aufbauen wollte.

37 Niobe, Tochter des Tantalus, Amphions Gemahlin, von den Göttern mit sieben Söhnen und sieben Töchtern beschenkt, spottete übermüthig der Latona, welche nur einen Sohn und eine Tochter geboren. Aber, die Mutter rächend, tödtete Apollo Niobe's Söhne, und Diana die Töchter, mit den unfehlbaren Geschossen, und Niobe, beim Verluste der Kinder in Thränen sich auflösend, erstarrte zum Stein.

40 Saul, von den Philistern besiegt, stürzte sich auf dem Gebirge Gilboa verzweifelnd in's eigne Schwert. David aber, den Tod des Königs und seiner Söhne beklagend, sprach: ihr Berge zu Gilboa, es müsse weder thauen noch regnen auf euch. (Sam. Buch 1 Kap. 31. Buch 2 Kap. 1.)

43 Arachne, von Pallas selbst in der Kunst des Webens unterrichtet, wagte es, ihre Lehrerin zu einem Wettstreite aufzufordern, und stellte auf einem kunstreiche Gewebe die nicht ruhmwürdigen Abenteuer der Götter dar. Hierüber erzürnt, zerriß Pallas das Gewebe und verwandelte Arachnen, die sich aus Verzweiflung selbst erhenkt hatte, in eine Spinne.

46 Rehabeam, Salomons Sohn, antwortete in Sichem, als er zur Regierung kam, dem Volke, das ihn um Erleichterung seiner Lasten bat: Mein Vater hat euch mit Peitschen gezüchtigt, ich aber will euch mit Scorpionen züchtigen. Da fiel Israel von ihm ab und steinigte den Rentmeister, den er absandte. Der König aber stieg, da er dies hörte, in seinen Wagen und floh gen Jerusalem. (1. Buch der Könige Kap. 12.)

49 Amphiaraus, welcher, in die Zukunft blickend, den unglücklichen Ausgang des thebanischen Krieges und seinen eignen Untergang voraussah, verbarg sich, um sich der Tehilnahme an diesem Kriege zu entziehen. Aber seine Gemahlin Eriphyle konnte dem Reiz eines kostbaren Halsgeschmiedes nicht widerstehen, das Polynices ihr darbot, und verrieth den Aufenthalt ihres Gemahls, der nun wider Willen an dem Kriege Theil zu nehmen genöthigt ward und darin seinen Tod fand. Diesen Verrath zu rächen, tödtete sie ihr Sohn Alkmäon.

52 Sennacherib, der stolze König von Assyrien, mußte von Jerusalem, das er belagert hatte, wieder abziehen, da Gott durch einen Engel seine Schaaren tödten ließ, und ward in Ninive von seinen Söhnen Adra-Melech und Sar-Ezer erschlagen, als er im Hause seines Gottes Nisroch anbetete. (2. Buch der Könige Kap. 19.) (Zitat: Sancheribs Niederlage und Tod: Und es geschah in der gleichen Nacht, daß der Engel Jahwes auszog und im Lager der Assyrer hundertfünfundachtzigtausend Mann erschlug. Als man am Morgen aufstand, siehe, da waren es lauter leblose Leiber. - Da brach Sancherib, der König von Assyrien, auf und zog ab. Er kehrte nach Ninive zurück und blieb dort. Es begab sich aber, als er einmal im Tempel seines Gottes Nisroch anbetete, da erschlugen ihn seine Söhne Adrammelech und Sarezer mit dem Schwert und entkamen in das Land Ararat. Sein Sohn Asarhaddon wurde König an seiner statt.)

55 Cyrus, König von Persien, wurde nach langem Glücke in einem Kriege gegen ein scythisches Volk, die Massageten, völlig geschlagen und verlor selbst sein Leben. Tomyris, die Königin der Massageten, soll, als sein Leichnam gefunden war, seinen Kopf haben abhauen und mit den im Texte angeführten Worten in ein Gefäß voll Blut tauchen lassen.

 58 - 63 Der Tod des Holofernes und die Zerstörung Troja's sind zu bekannt, als daß sie eine Anmerkung erforderten.

81 Des Tages sechste Dienerin, die sechste Stunde vom Aufgange der Sonne an gerechnet. Es mußte also, da die Reise in der heiligen Woche gemacht wurde, Mittag sein.

100 Auf einem Berge vor Florenz liegt die Kirche des heil. Miniatus. Zu dieser führt die Treppe, mit welcher der Dichter den Weg durch den Felsen vergleicht. Er kann übrigens nicht von Florenz sprechen, ohne das schlechte Regiment und die schlechten Sitten seiner Vaterstadt zu strafen, in welcher sich eben einige auffallende Beispiele von Verfälschung ergeben hatten.

110 Den geistlich Armen Heil! Der Gruß, welcher denjenigen entgegenklingt, die sich vom Stolze gereinigt haben, ist das Wort Christi Matth. 5 V. 3. Im Originale sind die Bibelstellen fast immer lateinisch nach den Worten der Vulgata aufgenommen. Der Uebersetzer hat zuweilen nach dem Bedürfnisse des Versbaues die lateinischen Worte beibehalten, öfter aber sie deutsch wiedergegeben und sich dann so viel als möglich an die Lutherische Uebersetzung, die Vulgata des evangelischen Deutschlands, gehalten. In letzterer heißt der Vers wörtlich: Selig sind, die da geistlich arm sind, denn das Himmelreich ist ihr.

121 Das erste P, die Sünde des Stolzes bezeichnend, ist verschwunden, seit der Engel (V. 98) des Dichters Stirn mit seinem Flügel berührt hat. Uebrigens verschwinden mit diesem Zeichen auch schon fast die anderen Zeichen von selbst, und lassen noch geringe Spur zurück, weil jedes andere Laster sofort deutlicher erkannt wird, folglich schon halb abgelegt ist, sobald wir vom Hochmuthe uns gereinigt haben.

127  Die Ablegung einer schlechten Neigung tritt nicht als ein einzelnes bestimmtes Ereignis hervor, sondern als das Resultat der Betrachtung, Prüfung und Ueberzeugung, nach und nach unmerklich, wie die Nacht in die Dämmerung und diese in den Tag übergeht. Daher bemerkt Dante nicht, daß das erste P durch das Wehen des Engelsflügels verschwunden, und weiß nicht, wie er wunderbar erleichtert ist.