Uebersicht

Das Fegefeuer.

Zehnter Gesang.

1 Kaum war ich innerhalb der Thür der Gnade, 1
Die selten aufgeht durch den schlechten Hang,
Der grad' erscheinen läßt die krummen Pfade,
4 Da hört ich, wie sie beim Verschließen klang.
Wie ward's auch wohl entschuldigt, wie verziehen,
Wenn nach ihr umzuschau'n mich Neugier zwang? 5 - 6
7 Wir mußten durch gespaltnen Felsen ziehen, 7
Der vor und rückwärts sprang vor unsrer Bahn,
Wie Wogen sich anwälzen erst, dann fliehen.
10 "Jetzt gilt es," also fing mein Führer an,
"Wohl etwas Kunst, um hier und dort den Seiten,
Da, wo sie rückwärts weichen, uns zu nahn." 12
13 Wir durften drum nur langsam vorwärts schreiten,
Und schon war Luna's Rand dem Meer genaht, 14
Schon sah ich sie hinab ins Bette gleiten,
16 Eh' wir zurückgelegt den engen Pfad;
Doch blieben wir an seinem offnen Rande,
Da, wo der Berg etwas zurücke trat,
19 Ich matt, und fremd wir Beid' in diesem Lande,
In Zweifeln stehn an einem ebnen Ort,
Der öd' war, wie ein Weg in Libyens Sande.
22 Von wo sein Rand ans Leere gränzt, bis dort
Zum Fuß der Felsen, die sich jenseits heben,  23
Ging ebner Raum drei Menschenlängen fort,
25 So weit grad' aus der Blicke Flügel schweben,
Schien solch ein Raum zur recht' und linken Hand
Den Berg als Kranz vorspringend zu umgeben.
28 Wie ich dort still mit meinem Führer stand,
Erkannt' ich, daß der Felsrand uns entgegen,
Der steil sich hob, gleich einer schroffen Wand,
31 Von weißem Marmor war, und allerwegen
Voll Bildnerei, um Polyklet zur Scham,
Ja die Natur zum Neide zu erregen.
34 Der mit dem Friedensschluß, den längst in Gram
Die Welt ersehnt, aufs irdische Gefilde,
Den lang verschlossnen Himmel öffnend, kam,
37 Der Engel war dort eingehau'n, und Milde
Und Liebe that so wahr sein Wesen kund,
Daß Niemand glaubt', es sei ein stumm Gebilde.
40 Man schwor, ein Ave schweb' auf seinem Mund,
Denn Sie war dort, durch die des Himmels Riegel
Der Höchste löst' im neuen Liebesbund.
43 Es zeigte der Geberde reiner Spiegel
Das Wort: Sieh Gottes Magd, so ausgeprägt,
Wie sich im Wachs ausprägt das schöne Siegel34-45
46 "Was schau'st du," sprach Virgil, "so unbewegt,
Als ob nur diesem Bild dein Blick gebührte?"
Ich ging zur Seit' ihm, wo das Herz uns schlägt,
49 Daher sich jetzt dorthin mein Auge rührte;
Und hinter der Maria war der Stein,
Zur andern Seite dessen, der mich führte,
52 Geschmückt mit andern schönen Schilderei'n.
Drum trat ich, vor Virgil vorbeigeschritten,
Ihm näher, um zum Schau'n bequem zu sein.
55 Der Wagen war, in Marmor eingeschnitten,  55
Die stierbespannte Bundeslade da,
Drob ungeheischtes Dienen Straf' erlitten.
58 Das Volk voraus, in sieben Chören, sah
Ich jubelnd ziehn, und fragt' ich: ob sie singen?
So sagt' ein Sinn mir Nein, der andre Ja!
61 Sah Weihrauchduft sich in die Lüfte schwingen,
Und auch bei diesem Bilde ließen schwer
Geruch sich und Gesicht zum Einklang bringen.
64 Im Tanze vor der heil'gen Lade her,
Sah ich erhöht in Demuth den Psalmisten,
Der minder hier als König war, und mehr,
67 Und, wie erfüllt von Ränken und von Listen,
Am Fenster des Palasts mit schnödem Wort
Spöttisch bewundernd sich die Michal brüsten.
70 Darauf bewegt' ich mich von meinem Ort,
Um weiter hin ein andres Bild zu schauen,   71
Und sah den edlen Römerherrscher dort
73 Zu hohem Ruhm in Marmor eingehauen,
Ihn, der zum großen Siege den Gregor
Beseelt mit Kraft und gläubigem Vertrauen.
76 Trajan, den Imperator, stellt' es vor,
Und eine Wittw', ihm in den Zügel fallend,
Die, schmerzerfüllt, mit Flehen ihn beschwor.
79 Rings Reiterei gedrängt, Trompeten schallend,
- So schien's dem Aug' - im goldenen Panier
Die Adler drüberhin im Winde wallend.
82 Die Arme schrie mit Macht, so schien es mir:
"Verweile, Herr, mir ward der Sohn erschlagen,
Du räche mich, die Rache ziemet dir."
85 ""So warte, bis ich kehre!"" Dies zu sagen
Schien Er, und Sie darauf: "Und wenn du nun"
(Und ihre Worte schien der Schmerz zu jagen)
88 "Nicht wiederkehrst?" - ""So wird's mein Folger thun!"" -
"Vertraust du, was dir obliegt, fremden Armen,
Mag auch indeß die Pflicht vergessen ruhn?"
91 ""So tröste dich,"" entgegnet' er der Armen,
""Bevor ich ziehe, lös' ich meine Pflicht,
Gerechtigkeit gebeut's, mich hält Erbarmen!"" -
94 Sichtbar macht' Er die Red', Er, deß Gesicht   94
Von Ewigkeit nichts Neues noch gesehen,
Uns neu, denn diesseits findet man es nicht.
97 Indeß ich mich ergötzte hinzuspähen
Nach solcher Demuth Bildern, deren Werth
Noch Er erhöht, durch welchen sie entstehen,
100 Da flüsterte Virgil, mir zugekehrt:
"Sieh Jene dort, die langsam, langsam schreiten,
Von diesen wird uns wohl der Weg gelehrt."
103 Ich ließ, da immer hier nach Neuigkeiten
Mein Streben war, voll Freud' und Ungeduld
Nach dieser Seite hin die Blicke gleiten.
106 Vernimmst du, Leser, wie sich Gott die Schuld
Bezahlen läßt, nicht denke drum zu weichen
Vom guten Pfad und trau' auf seine Huld.
109 Nicht sieh auf dieser Qualen Form und Zeichen,
Denk' an die Folg' - im schlimmsten Falle wird
Nur bis zum großen Spruch die Marter reichen.
112 Ich sprach: ""Nur unklar seh' ich und verwirrt   112
Was dort sich naht. Sind's menschliche Gestalten,
Was unstät itzt vor meinem Auge flirrt?""
115 "Kaum seh' ich selbst ihr Bild sich klar entfalten,"
Entgegnet Er, "weil erdwärts tief gebückt
Vor schwerer Last sie Haupt und Schultern halten.
118 Sieh, was dort unter Steinen näher rückt,
Sieh scharf, und du entwirrst gequälte Schatten,
Und siehst genau, was Jeden niederdrückt."
121 O stolze Christen, o ihr Armen, Matten!
Der Fuß schlüpft rückwärts, doch, an Geiste blind,
Glaubt ihr, vortrefflich geh' eu'r Lauf von statten,
124 Bemerkt ihr nicht, daß wir nur Würmer sind,
Bestimmt zu jenes Schmetterlings Entfaltung,
Deß Flug nie der Gerechtigkeit entrinnt.
127 Was tragt ihr hoch des Haupt in stolzer Haltung?
Gewürm, das öfters, wenn's der Pupp' entflieht,
Verkrüppelt ist zu schnöder Mißgestaltung!
130 Wie man zuweilen wohl Gestalten sieht,   130
Anstatt des Simses tragend Dach und Decken,
Gekrümmt, daß sich das Knie zum Busen zieht,
133 Die im Beschauer wahres Leid erwecken,
Durch falschen Schmerz, - so konnt' ich jetzo klar
Bei schärferm Hinschau'n Jene dort entdecken,
136 Den mehr, den minder tief gebogen zwar,
Als ob die Last hier mehr, dort minder wiege,
Doch der auch, der am meisten duldsam war,
139 Schien thränenvoll zu sagen: Ich erliege!

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Elfter Gesang

Erläuterungen:

1 Wer durch diese Pforte eingeht, ist der Seligkeit gewiß. Aber die verworrene Begier, der unklare Wille macht, daß sie nur für Wenige sich öffnet.

5 - 6 Der Dichter beachtet die V. 131 und 132 des vorigen Gesanges erhaltene Warnung.

7 Der Anfang des Weges durch den Felsenspalt ist rauh und schwierig. Aber mit jeder besiegten Schwierigkeit wächst die Kraft, die künftigen zu überwinden, bis zuletzt der Kampf zur Lust wird. Diese Idee, deren Wahrheit Jeder, der irgend einem guten und bedeutenden Zwecke mit ernstem treuem Gemüthe nachgestrebt und sich durch dies Streben geläutert und gestärkt hat, empfinden wird, findet sich im Verfolg des Gedichts wiederholt angedeutet.

12 Die Wanderer müssen sich an die Felsen halten, wo sie zurücktreten, um nicht an die vorspringenden anzustoßen.

14 Der Mond, der seit vier Tagen abgenommen, geht des Vormittags, gegen 9 - 10 Uhr nach unserer Rechnung, unter und ist am Tage noch sichtbar.

23 S. die Anm. zum 47. Verse des vierten Gesanges.

28 Wir werden in jedem Kreise des Reinigungsberges bei dem Eintritte Beispiele der Tugend finden, welche dem darin abzulegenden Fehler entgegengesetzt ist, beim Austritte aber Beispiele des Lasters selbst und seiner Folgen. Jene werden die Geißel genannt, welche das Gemüth antreiben soll, diese Tugend sich anzueignen, wodurch es dann von selbst von dem entgegengesetzten Laster gereinigt sein wird - diese der Zügel, welcher uns abhalten soll, in das abgelegte Laster zurückzufallen. Hier, in dem Kreise, in welchem die Hochmüthigen büßen, finden wir daher zunächst in Marmor Bilder der Demuth.

34-35 Gabriel, welcher der Maria ankündigte, daß sie den Heiland gebären werde. (S. Ev. Lucä Kap. 1 V. 26 - 38)

55 David, die Bundeslade abholend, tanzte im leinenen Rocke vor ihr her, und achtete nicht des Spottes der Michal, die ihn verhöhnte, daß er, nicht gedenkend seiner königlichen Würde, vor dem Volke getanzt habe, indem er antwortete: Ich will noch geringer werden, denn also, und will niedrig sein in meinen Augen. Er war hier minder als König, weil er sich so demüthig dem Volke mischte, mehr, weil er als Diener Gottes bei Gott Gnade fand. - Usa, der Levit, vergaß des Gebotes, daß kein Levit die Bundeslade berühren dürfe, und wollte sie stützen, als der Wagen zu fallen drohte. Dafür traf ihn unmittelbarer Tod. (Vergl. 2tes Buch Sam. Kap. 6.)

71 Nach einer nicht historisch verbürgten Anekdote soll Trajan, von einer Wittwe, deren Sohn ermordet worden war, um Gerechtigkeit angefleth, einen Heereszug, den er eben unternehmen wollte, so lange aufgeschoben haben, als nöthig war, um den Mörder zu bestrafen. Thomas von Aquino versichert, dieser Zug von Milde und Gerechtigkeit habe den heiligen Gregor so gerührt, daß er von Gott die Erlösung des Kaisers aus der Verdammniß erfleht habe.

94 Hiernach ist Gott selbst der Urheber dieser Bilder, die hier und anderwärts bald aus der Bibel, bald aus der Geschichte, oft sogar aus der heidnischen Götterlehre entnommen werden, und dies mit vollem Rechte, da es hier nur auf Darstellung von Thatsachen ankommt, und dem Gotte der Götter jedes Laster hassenswerth, jede Tugend liebenswürdig erscheinen muß, zu welcher Lehre sich auch der Lasterhafte oder Tugendhafte bekennen möge.

112 In dem ersten, folglich dem weitesten Kreise, reinigen sich die Hochmüthigen von ihrer Schuld, indem sie, tief niedergedrückt von schweren Lasten, den Berg umwandeln. Wie sie im Leben, die Bürde ihrer Mängel nicht fühlend, mit hochragendem Haupte einhergingen, so gehen sie jetzt, im Gefühl dieser Last, demüthig zur Erde gebückt, und erkennen, wie viel jeder menschliche Vorzug und der daraus entspringende Ruhm werth, wie wenig begründet menschlicher Stolz sei. - Daß Dante von Weitem die Tiefgebückten nicht sogleich als menschliche Gestalten erkennt, erläutert sich aus ihrer Haltung.

130 Die Karyatiden.