Uebersicht

Das Fegefeuer.

Neunter Gesang.

1 Schon hob sich Tithons Buhlerin, entgleitend
Dem Arm des süßen Freunds und einen Kranz
Von weißem Licht im Orient verbreitend,
4 Geschmückt die Stirn mit der Demanten Glanz,
Die jenes kalten Thiers Gestaltung zeigen,
Das tödtlich sticht mit seinem gift'gen Schwanz.
7 Zwei Schritte hatte, wo ich war, im Steigen
Die Nacht gethan, um sich beim dritten jetzt
Mit ihren Fittigen herabzuneigen,   1-9
10 Als meine Sinne, da ich herversetzt
Mit Adams Erbschaft war, dem Schlaf erlagen
Und ich ins Gras sank, wo wir uns gesetzt.
13 Zur Stunde war es, wo mit bangen Klagen,
Wenn sich der Morgen naht, die Schwalbe girrt,
Vielleicht gedenkend ihrer ersten Plagen,   15
16 Und wo der Geist, vom Leibe nicht verwirrt,
Frei und entledigt von den Sorgen allen,
Im Traumgesicht beinahe göttlich wird.
19 Da sah ich, träumend, an des Himmels Hallen
Mit goldenem Gefieder einen Aar,
Gespreizt die Flügel, um herabzufallen.
22 Mir schien's der Ort, wo Ganymedes war,   22
Als er, indem die Seinen ihn umfingen,
Entrückt ward zu der ew'gen Götter Schaar.
25 ""Er pflegt vielleicht sich hier herabzuschwingen,""
So dacht' ich, ""und verschmäht von anderm Ort
In seinen Klauen uns emporzubringen,""
28 Ein wenig kreist' er erst im Bogen dort,
Dann schoß er, schrecklich, wie ein Blitz, hernieder,
Und riß mich bis zum Feuer aufwärts fort.
31 Mir schien, ich brenn', auch brenne sein Gefieder,
Und ganz erglüht von dem erträumten Brand,
Erwacht' ich jäh aus meinem Schlummer wieder.
34 So fuhr Achill empor im fremden Land
Und drehte die erwachten Blick' im Kreise,
Weil er nicht wußte, wo er sich befand,
37 Als Thetis ihn im Schlaf dem Chiron leise
Entführt und ihn nach Skyros hingebracht,
Von wo Ulyß ihn rief zur großen Reise;   34-39
40 Wie ich emporfuhr, da ich aufgewacht;
Doch fühlt' ich Frost sich über mich verbreiten,
Gleich Einem, den der Schreck erstarren macht.
43 Mein treuer Hort allein war mir zur Seiten. -
Zwei Stunden stieg, als ich mich aufgerafft,
Die Sonn' und glüht' ob freien Meeresweiten.
46 Da sprach mein Herr: "Nicht sei durch Furcht erschlafft!
Muth, denn uns ist das Schwerste nun gelungen,
Verengre nicht - erweitre jede Kraft.
49 Du hast zum Läut'rungsort dich aufgeschwungen.   49
Den Felsen sieh, der's einschließt - sieh das Thor
Dort, wo, wie's scheint, der Stein entzwei gesprungen.
52 Noch glänzt' Aurora nicht dem Tage vor,
Du aber lagst, den Geist vom Schlaf befangen,
Im Thale dort auf jenem Blumenflor,
55 Da kam ein Himmelsweib dahergegangen.
"Lucien seht - den Schläfer nehm' ich fort,
Und leichter soll er so zum Ziel gelangen."
58 Sordell blieb mit den andern Seelen dort;
Sie faßte dich, und als der Tag begonnen,
Stieg sie empor mit dir an diesen Ort,
61 Ich folgt' ihr; und als mir ihr Blick voll Wonnen
Das Thor gewiesen, legte sie dich hin,
Und ging, und mit ihr war dein Schlaf entronnen."
64 Gleich wie wir, wenn uns offenen Gewinn
Die Wahrheit zeigte, Sorg' und Furcht verjagen,
Von Muth und Lust erfüllt den freien Sinn,
67 So ich - und da mich frei von Angst und Zagen
Mein Meister sah, so schritt' er zu den Höh'n,
Und ich auch stand nicht an, den Gang zu wagen.
70 Sieh, Leser, hier sich meinen Stoff erhöhn,
Drum staune nicht, wenn größre Kunst die Worte,
Dem Stoff gemäß, sich aussucht, stark und schön,
73 Wir gingen fort und nahten einem Orte, 73
Der erst als Felsenspalt' erschien, doch nah'
Erkannt' ich in der Oeffnung eine Pforte.
76 Drei Stufen, von verschiednen Farben, sah
Ich unter ihr, um zu ihr aufzusteigen;
Dann auch erkannt' ich einen Pförtner da,
79 Der auf der höchsten saß in tiefem Schweigen,
Doch wie ich auf sein Antlitz hingewandt
Mein Auge hatte, mußt' ich's wieder neigen.
82 Er hatt' ein nacktes Schwert in seiner Hand,
Und wollt' ich auf dies Schwert die Blicke kehren,
So blitzt' es her der Sonne Glanz und Brand.
85 "Von dorten sprecht, was mögt' ihr hier begehren?"   85
Sprach er, "wer bracht' euch bis zu mir empor?
Habt Acht, sonst wird das Kommen euch beschweren."
88 Mein Meister drauf: "Uns sagte kurz zuvor
Ein Weib, vom Himmel selbst dazu berufen:
Kehrt dorthin euren Schritt, dort ist das Thor!"
91 Da hört' ich gleich den edlen Pförtner rufen:
"So mögt ihr denn durch Sie zum Heile ziehn;
Kommt, schreitet weiter vor zu unsern Stufen!"
94 Wir kamen hin - die erste Stufe schien   94 ff.
Von Marmor, weiß, von höchster Glätt' und Reine,
Drin spiegelt' ich mich ab, wie ich erschien.
97 Die zweite schien mir von verbranntem Steine,
Rauh, lang und quer geborsten und zerschlitzt,
Und ihre Farbe schwärzlich dunkle Bräune.
100 Die dritte höchste Stuf' erschien mir itzt
Wie Porphyr, flammend, gleich des Blutes Quelle,
Die frisch und warm aus einer Ader spritzt.
103 Dem Engel diente sie zur Ruhestelle
Für seine Füß', und höher saß er dann
Auf der durchsicht'gen diamantnen Schwelle.
106 Gern folgt' ich meinem Führer dort hinan,
Der sprach: "Jetzt geh', ihn flehend zu begrüßen,
Denn Er ist's, der das Schloß dir öffnen kann."
109 Demüthig sank' ich zu den heil'gen Füßen,
Schlug dreimal erst auf meinen Busen mich,
Und bat ihn, aus Erbarmen aufzuschließen.
112 Mit seines Schwertes scharfer Spitze strich
Er sieben P auf meine Stirn und machte
Sie wund und sprach: "Dort drinnen wasche dich."
115 Noch, wenn ich Asch' und Erdenstaub betrachte,
Seh' ich des Kleides Farb', aus welchem Er
Mit seiner Hand hervor zwei Schlüssel brachte.
118 Von Gold war dieser, und von Silber der.
Den weißen sah ich ihn, den gelben drehn,
Und sieh, verschlossen war das Thor nicht mehr.
121 Er sprach darauf: "Trifft einer von den zween
Im Schloß beim Umdrehn irgend Widerstand,
So bleibt die Thüre fest verschlossen stehen.
124 Mehr Wert hat der von Gold, doch mehr Verstand
Und Kunst wird jener, eh' er schließt, bedürfen,
Denn er nur lös't das vielverschlungne Band.
127 Beim Oeffnen sollt' ich eher irren dürfen,
Sprach Petrus, der sie gab, als beim Verschluß,
Wenn nur, die kämen, erst sich niederwürfen."
130 Er stieß ans heil'ge Thor und sprach zum Schluß:
"So geht denn ein, doch daß euch's nie entfalle,
Daß, wer rückblickt, nach außen kehren muß."
133 Beim Oeffnen drehte mit so lautem Schalle   133
Die heil'ge Pfort' in ihren Angeln sich,
Gemacht von starkem, klingendem Metalle,
136 Daß er dem Knarren jenes Thores glich
Von Schloß Tarpeja, dessen Riegel sprangen,
Als der Gewalt Metell, sein Wächter, wich.
139 Ich horcht' aufmerksam hin, denn Stimmen sangen   139
Und ein Te Deum schien mir, was man sang,
Zu welchem volle süße Tön' erklangen.
142 Denn das, was jetzt zu meinen Ohren drang,
War, wie wenn zu Gesängen Orgeln gehen,
Und wir vor ihrem vollen hellen Klang
145 Die Worte bald verstehn, bald nicht verstehen.

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Zehnter Gesang
Anmerkungen:

1 - 9 Dante läßt die Nacht auf ihrer ganzen Bahn vier Schritte thun und sie mit zwei Schritten in die Höhe, mit zwei anderen aber niedersteigen. Als daher die Nacht zwei Schritte gethan hatte und im Begriff war, beim dritten wieder abwärts zu gehen, mußte da, wo der Dichter war, Mitternacht vorbei sein. An demselben Orte konnte also nicht das erste Weiß der Aurora sich am Himmel zeigen. Der Uebersetzer muß bekennen, daß er alle früheren Erklärungen der Stelle unbefriedigend findet und selbst keine bessere zu geben weiß. Einige glauben, Dante denke sich an einen andern Ort, als den, wo er sich befinde, an welchem eben die Aurora erscheine. Aber das erste Licht des Morgenroths kann sich im Frühlinge nicht im Scorpion zeigen, da die Sonne erst gegen das Ende des Octobers in dieses Zeichen tritt. Man ist daher darauf gefallen, daß der Dichter eine Mond-Aurora gemeint und sie deshalb als Buhlerin Thitons bezeichnet habe, weil die Sonnen-Aurora seine Frau sei. Da aber der Dichter beim Vollmonde seine Reise begann, so mußte jetzt, etwa vier Tage später, der Mond nach Mitternacht bereits aufgegangen, und es kann daher von einem Vorlichte des Mondes nicht die Rede sein. Nach einer dritten Erklärung endlich soll die Nacht nicht vier, sondern sechs bis sieben Schritte thun, daher denn jetzt beim dritten allerdings der erste Vorschein des Mondes sich zeigen könnte. Allein dieser Erklärung steht der Inhalt der Verse 7 - 9 entgegen, und es ist wohl eine sehr erzwungene Auslegung, wenn man annimmt, daß Steigen und Neigen hier nicht Gegensätze seien, vielmehr das Ersterer sich auf den Kreislauf der Nacht um den Himmel, das Zweite auf ihr Herniedersinken vom Himmel zur Erde beziehe - eine Auslegung, die übrigens auch um deshalb nicht stattfindet, weil, wenn zwei Sechstheile der Nacht verflossen sind, die Nacht in ihrer ganzen Dunkelheit schon da ist und daher nicht erst herabneigen kann. - Möge denn jeder Leser sich selbst eine bessere Erklärung suchen, und, wenn er keine findet, glauben, daß der sonst so genaue Dichter sich hier auch einmal verrechnet habe. Dieser Glaube wird der Verehrung gegen ihn und dem Genusse des Werks höchstens bei einem entschiedenen Pedanten Eintrag thun.

15 Hindeutung auf die Fabel von der Progne (oder Philomele), die in eine Schwalbe verwandelt ward. (S. Anm. zu Ges. 17 V. 19.)

22 Ganymedes, Sohn des Tros und Urenkel des Dardanus, des ersten Stifters von Troja, der schönste der Jünglinge, wurde vom Zeus, der die Gestalt eines Adlers angenommen, vom Gipfel des Ida zum Olymp entführt.

34 - 39 Achilles, Sohn der Thetis und des Nereus, war von seiner Mutter in den Styx getaucht worden und dadurch bis auf die Ferse, an welcher sie ihn gehalten, unverwundbar. Als man ihm prophezeite, daß er vor Troja sein Leben verlieren würde, brachte die sorgsame Mutter den Knaben, als Mädchen verkleidet, nach Skyros zum Könige Lykomedes, mit dessen Töchtern er erzogen wurde. Aber Ulyß entdeckte ihn hier und führte ihn zu den Griechen, welche Troja belagerten. - Chiron, der Centaur, war Achills Lehrer.

49 Wie Dante ohne sein Zuthun über den Acheron gekommen, so kommt er hier an die Pforte des Fegefeuers unbewußt, durch unmittelbare göttliche Einwirkung und Erleuchtung (V. 56) So geht der einzelne Mensch und so gehen ganze Völker aus einer lange im Stillen vorbereiteten moralischen Krisis hervor. (Vergl. Hölle Ges. 3. V. 130 und die dazu gehörige Anmerkung.)

73 Wer die religiösen Ueberzeugungen, hier durch kirchliche Symbole dargestellt, noch nicht in sich aufgenommen hat und das Wesen des Glaubens nur von fern betrachtet, der wird in ihm nur eine zufällige, wenig bedeutende Erscheinung finden, während er sich, näher erkannt, als die Pforte zur sittlichen Veredlung und Reinigung zeigt.

85 Aber der Wohlthaten des Glaubens sollen nur diejenigen theilhaft werden, welchen er wirklich durch göttliche Erleuchtung im Herzen aufgegangen ist - eine Erleuchtung, die dem reinen Willen, dem nach dem Höhern strebenden Gemüthe nie mangeln wird. Wer ohne diesen Beruf sich dieser Pforte nähert, den wird das blitzende Schwert treffen, das der Pförtner in seinen Händen hält - er wird empfangen, was er als Heuchler verdient.

94 ff. Wer, von seinen Mängeln sich reinigend, frei werden will, muß erst in sich selbst über seine Fehler klar werden, sie erkennen und bekennen, dann folgt die Reue von selbst und mit ihr die Vergebung. Darum läßt die Kirche dem Mahle der Versöhnung die Beichte vorausgehen, deren Symbole wir hier an der Pforte des Fegefeuers finden. - Die erste Stufe, die zu dieser Pforte emporführt, ist von weißem Marmor und zeigt in vollkommener Glätte dem Betrachtenden sein Bild. Sie deutet auf Selbsterkenntniß und Aufrichtigkeit. Die zweite Stufe deutet in allen Zügen auf Reue und Zerknirschung des Herzens, das nun seine Mängel erkannt hat. Durch sie gelangt man zu der dritten, welche das versöhnende Blut zeigt, das aus Liebe für die Reuigen vergossen ward. Hierauf ruht, als auf seinem Grunde, das ganze Gebäude der Kirche und folglich nur auf ihm die geistliche Macht, die der Priester ausüben soll. Nur dann, wenn sie der Grund aller geistlichen Macht ist, und diese sich auf das beschränkt, was auf diesem Grunde erbaut werden kann, wird ihr Sitz rein, klar und unzerstörbar sein, wie die Schwelle von Diamant, auf welcher wir den Pförtner sitzend finden. In diesem letztern wird man leicht den Priester überhaupt, den Beichtiger insbesondere, erkennen, wie er sein soll. Sieben P (der Anfangsbuchstabe von Peccatum, Sünde) zeichnet er, verwundend, auf die Stirn des Reuigen und Demüthigen, und deutet ihm dadurch warnend und belehrend die sieben Hauptsünden an, in welche der Mensch verfallen kann. Sein Gewand, entfernt von Pracht und weltlichem Schmuck, die seiner Bestimmung nicht entsprechen, zeigt Demuth, die dem Priester, im immerwährenden Hinblick auf Gott und auf die Nichtigkeit alles dessen, was Menschen stolz machen kann, vor Allem ziemt. Nur der Demüthige soll diese Schlüssel führen, den goldenen als Sinnbild der von Gott ihm anvertrauten Würde und geistlichen Macht, den silbernen, als das der heiligen Wissenschaft, die mit der Würde verbunden sein muß und zu ihrem Gebrauche erst geschickt macht. Unverletzt muß die Würde und echt die Wissenschaft sein, wenn der Priester sein heiliges Amt üben will. Beide gebieten Milde und verbieten Unversöhnlichkeit und Strenge, wenn Reue und Demuth Einlaß heischen am Thore der Gnade. Wer aber einmal eingelassen ist, der möge sich nicht verleiten lassen, nach dem, was er vor dem Thore zurückließ, sich umzusehen. Wie Orpheus seine Euridice, wird er sonst das Gewonnene wieder verlieren. Mit dieser Warnung entläßt der Pförtner die Pilger, damit sie auf dem eingeschlagenen Wege zum Bessern sicher das Gute finden mögen.

133 Weil selten nur wahre Reue an diesem Thore sich zeigt, wird es nur selten geöffnet, und thut sich daher so schwer auf, als dasjenige, welches zum römischen Schatze führte, als Cäsar, ungeachtet des tapfern Widerstandes des Tribunen Metell, ihn erbrach.

139 Die Seelen im Innern des Reinigungsortes singen den Ambrosianischen Lobgesang, Gott dankend, daß er sie selbst und den Dichter zur Läuterung zugelassen.