Uebersicht

Das Fegefuer.

Siebenter Gesang.

1 Nachdem sie würdig und voll Freudigkeit
Drei-, viermal mit den Armen sich umgaben,
Da trat Sordell zurück: "Sprecht, wer ihr seid?"
4 "Eh' sich zu diesem Berg gewendet haben  4
Die Seelen, welche Gott zu schauen werth,
Hat Octavianus mein Gebein begraben.
7 Ich bin Virgil - des Himmels Eingang wehrt
Mir Glaubensmangel nur, nicht andre Sünde."
So sprach Virgil, als Jener es begehrt.
10 Als ob ein Wunder plötzlich hier entstünde
Bei dem man sagt: "Es ist! dann: Es ist nicht!
Und staunend glaubt, und nicht, daß man's ergründe;
13 So schien Sordell - dann neigt' er das Gesicht,  13
Worauf er zu den Knien Virgils sich beugte
Und ihn umflocht, wo man den Herrn umflicht.
16 "O Latiums Ruhm, du, dessen Werk bezeugte,
Wie reich die Sprache sei an Kraft und Zier.
O ew'ger Preis der Stadt, die mich erzeugte,
19 Bringt mein Verdienst, mein Glück dich her zu mir?
Und wenn ich werth mich solcher Huld erweise,
So sprich, auf welchem Wege bist du hier?"
22 Virgil darauf: "Ich kam durch alle Kreise
Des wehevollen Reichs in dieses Land,
Und Himmelskraft bewegte mich zur Reise.
25 Nicht Thun, nein, Nichtthun nur, hat mich verbannt,
Hinab verbannt von hoher Sonne Strahlen,  26
Die du ersehnst, die ich zu spät erkannt,
28 Zu jenen tiefen, nachterfüllten Thalen,
Zum Ort, wo leises Seufzen nur ertönt,
Nicht Weheruf, noch Angstgeschrei von Qualen;
31 Wo um mich her die Schaar der Kindlein stöhnt,  31
Die ungetauft aus jener Welt geschieden,
Mit Gott für Adams Schuld noch unversöhnt;
34 Wo die sind, die mit ird'schem Werth zufrieden,
Die Tugenden, bis auf die heil'gen Drei,   35
Sämmtlich geübt und jede Schuld gemieden.
37 Doch, wenn du kannst, so bring' uns Kunde bei,
Um schneller uns zu unserm Ziel zu leiten,
Wo wohl der Läut'rung wahrer Anfang sei."
40 Und Er: "Ich darf umher und aufwärts schreiten,   40
Denn kein gewisser Ort ist uns bestimmt.
So weit ich gehn darf, will ich dich begleiten.
43 Doch sieh, wie schon des Tages Licht verglimmt,
Drum ist auf guten Aufenthalt zu sinnen,
Weil man bei Nacht nicht in die Höhe klimmt.
46 Dort rechts sind Seelen, nicht gar weit von hinnen;
Zu diesen, wenn du einstimmst, führ' ich dich,
Und denke wohl, du wirst dabei gewinnen." -
49 Virgil: "Wenn's Nacht wird, steigt man nicht? So sprich44-49 ff.
Erliegt vielleicht die Kraft dann der Beschwerde?
Wie, oder widersetzt dann Jemand sich?"
52 Mit seinem Finger streifte nun die Erde
  Sordell und sprach: "Nicht hoffe, daß bei Nacht
Dein Fuß den Strich nur überschreiten werde.
55 Am Steigen hindert sonst dich keine Macht,
Als Dunkelheit, die, wie sie uns ermattet,
Verwirrt durch Ohnmacht unsern Willen macht.
58 Hinab zu gehn und rückwärts ist gestattet,
Und irrend rings umher zu gehn am Bord,
Wenn auch ihr Schleier noch die Welt umschattet."
61 Mein Meister stand erst wie bewundernd dort;
"Wie du versprachst," so hört' ich drauf ihn bitten
"Geleit' uns an den angenehmen Ort."
64 Wir waren eben noch nicht weit geschritten,
Da war ein hohler Raum am Berg zu sehn,
Ein Thal, das dort den Felsenrand durchschnitten.
67 "Dorthin," so sprach der Schatten, "laß uns gehn,
Seht dort den Berg von einer Höhlung theilen
Dort sehen wir den Morgen auferstehn."
70 Ein krummer Fußpfad führte zwischen steilen
Felshö'hn und Ebene zum Rand der Schlucht,
Da hieß Sordell am Abhang uns verweilen.
73 Gold, feines Silber und des Coccums Frucht,  73
Bleiweiß und Indiens Blau in hellster Reine,
Smaragd, zerbrochen kaum - in dieser Bucht,
76 Bei dieses Grases, dieser Blumen Scheine,
Schwänd' ihrer Farben ganzer Glanz dahin,
Wie seinem Größern unterliegt das Kleine.
79 Nicht war Natur allein hier Malerin,
Mit tausend wunderbar gemischten Düften
Ergötzte sie auch des Geruches Sinn.
82 Salve, Regina, tönt' es in den Lüften
Von Seelen auf dem blumenreichen Beet,
Versteckt hier innen zwischen Felsenklüften.
85 "Bevor die Sonne ganz zur Rüste geht,
Gehn," sprach Sordell, "wir nicht hinab zu ihnen,
Denn, wenn ihr hier auf diesem Felsen steht,
88 Erkennt ihr besser Aller Art und Mienen,
Als sie im Thale selber, im Gedrang,
So vieler großen Schatten euch erschienen.
91 Der höher sitzt und scheint, als hätt' er lang
Versäumt, wozu ihn seine Pflicht verbunden,
Und nicht den Mund regt bei der Andern Sang,
94 Ist Kaiser Rudolph, der Italiens Wunden   94
Zu heilen zwar vermocht, doch nicht geheilt,
So daß es spät durch Andre wird gesunden.
97 Der, dessen Anblick jetzt ihm Trost ertheilt,  97
Einst Herr des Landes, das der Fluß durchschneidet,
Der in die Elb', in ihr zur Meerflut eilt,
100 Hieß Ott'kar, der, mit Windeln noch umkleidet,
Besser als Wenzeslaus, sein Sohn, erschien,
Der Bärt'ge, der an Ueppigkeit sich weidet.
103 Der Kleingenaste scheint zu Rath zu ziehn
Den Güt'gen dort - er ist es, der geschlagen,
Entblätternd Frankreichs Lilien, starb im Fliehn.
106 Seht ihn die Brust in bitterm Kummer schlagen.
Den Andern seht - zum Bett für sein Gesicht
Macht er die Hand mit Seufzern und mit Klagen.
109 An Frankreichs Aussatz, an den Bösewicht,
Den Sohn und Eidam denken sie, deß Leben
Voll Schmutz und Schmach sie feindlich quält und sticht.  103-111
112 Den Gliederstarken sieh! Mit dem daneben,
Dem Adlernas'gen, singt er in Accord,
Und ragt' einst hoch in jedem wackern Streben112-114
115 Und konnt', als er verstarb, der Jüngling dort,
Der hinten sitzt, den Königsthron ererben,
So ging von Stamm zu Stamm die Tugend fort.
118 Jacob und Friederich, die andern Erben,
Sie sollten zwar des Thrones Herrlichkeit,
Doch nicht des Vaters bess'res Gut erwerben115-120
121 Denn selten nur soll Menschenredlichkeit,
Nach Gottes Schluß, neu aus der Wurzel schlagen,
Weil Er nur sie auf frommes Flehn verleiht.
124 Dem Adlernas'gen ist dies auch zu sagen,
So gut als Petern, welcher mit ihm singt,
Weshalb Provence und Puglien sich beklagen,
127 Weil so viel schlechtern Keim sein Same bringt,  124 - 127
Als höher sich Konstanza's Gatt' im Preise   128
Vor Beatricens und Margrethens schwingt.   129
130 Den König seht von schlichter Lebensweise,  130
Der einsam sitzt, Heinrich von Engeland,
Vergnügt, daß sich gleich ihm sein Sproß erweise.
133 Der tiefer sitzt, den Blick emporgewandt,
Ist Markgraf Wilhelm, welchen noch die Seinen  134
In Montferrat, im Canaveser Land
136 Und Alessandria's Tück' und Krieg beweinen.

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Achter Gesang

Anmerkungen:

4 Da, nach Dante's Glauben, keine Seele selig werden konnte, ehe Christus für die Menschheit gestorben war, konnte auch keine sich zu dem Berge des Fegefeuers wenden, welcher allen denjenigen, die ihn erreichen, den Weg zur Seligkeit gewährt.

13 Sordells, des Dichters, Stolz ist verschwunden, als er hört, das der Schatten des größern Dichters vor ihm steht.

26 Die Sonne, Gott, dessen Anschauen durch den Glauben den Seligen zu Theil wird.

31 Daß auch neugeborene Kinder, wenn sie vor der Taufe sterben, in die Hölle kommen, dürfte aus dem Evangelio schwerlich zu erweisen sein. Christus ließ die Kindlein zu sich kommen, die ungetauft waren, "den Solcher," sagte er, "ist das Himmelreich."

35 Die drei heiligen Tugenden der Christen: Glaube, Liebe, Hoffnung. Die Meinung des Dichters, daß Jeder, dem einer dieser Tugenden fehle, kein Christ sei, spricht sich oft in seinem Werke aus, wie wir denn auch im Paradiese (Ges. 20 V. 118 ff.) finden, daß derjenige, der sie besitze, selig werden könne, ohne getauft zu sein.

40 Diejenigen, welche die Reue bis zu ihrem Tode verschoben, dürfen allenthalben herumschreiten, nur nicht zu ihrem nächsten Ziele, der Pforte des Fegefeuers. Wir werden auch hierin, wie in jeder Einzelnheit, die tiefere Bedeutung erkennen. Wer nicht den Augenblick benutzt, um das Rechte zu thun und mit festem Blicke auf das Ziel vorwärts zu schreiten, der kann rechts und links Manches finden und erlangen, aber dem Ziele kommt er nicht näher - ja so sehr er sich darnach sehnen mag, ihm entgeht mit dem festen Willen die Kraft, sich ihm zu nähern, bis er endlich, sich aufraffend, wie durch ein Wunder dahin getragen wird.

44 - 49 ff. Diese Stelle beziehen die Theologen auf das Wort des Erlösers im Ev. Johannes 12, 35: "Wandelt, dieweil ihr das Licht habt, daß euch die Finsterniß nicht überfalle. Wer in der Finsterniß wandelt, der weiß nicht, wo er hingeht. " - Mag auch Dante an dieses Wort hier gedacht haben, so dürfte es doch kaum seine Absicht gewesen sein, jene große Wahrheit bloß theologisch zu betrachten. Der Dichter, der sich eben am Schlusse des vorigen Gesanges so gewaltig über die Verwirrung seiner Zeit ausgesprochen hat, der wohl einsieht, daß eine solche Verwirrung nur dann entsteht, wenn die Führer, durch Leidenschaft und Parteisinn blind, dahinlaufen, ohne zu erkennen, was und wohin sie wollen, und welcher Abgrund unmittelbar vor ihren Tritten liegt - dieser Dichter, in dessen Thun und Wesen selbst im Schwierigsten die lichtvollste Klarheit ist, konnte jene Wahrheit nicht hinschreiben, ohne dabei neben dem theologischen auch den großen welthistorischen Sinn derselben ausdrücken zu wollen. Auf dem Wege zum Himmel, wie auf dem durch das Leben - auf dem der Staaten, wie auf dem der einzelnen Menschen - auf dem, nach einem innern Ziele in Geist und Gemüth, wie auf dem nach einem äußern, kommt man nur beim Lichte des Tages vorwärts. Die aber in der Nacht wandeln, sind noch glücklich, wenn sie statt vorwärts sich seitwärts bewegen und auf der einmal erreichten Höhe bleiben. Meistens gehen oder stürzen sie, früher oder später, rückwärts in der Dunkelheit, die durch Ohnmacht den Willen verwirrt. Wer daher der Nacht, die ihn umgiebt, sich nicht entledigen kann, harre lieber ruhig, bis sie verschwunden ist. Vergl. Ges. 13. V. 16 - 21.

  Zitat Ges. 13. V. 16 - 21:
16 "O süßes Licht, du flößest den Entschluß
  Zum neuen Weg mir ein, du führ' uns weiter,"
  Begann er, wie ein treuer Führer muß.
19 "Du wärmst die Welt, du magst sie hell und heiter!
  Nie wandle man, wenn sich dein Glanz verhehlt,
  Drängt nicht die Noth, und Er sei unser Leiter."

73 Coccum, die Scharlachbeere des Plinius - kaum zerbrochener Smaragd, der den frischesten, durch keine Berührung getrübten Glanz der Farbe zeigt. - In diesem prächtigen Thale läßt Dante vor der Pforte des Fegefeuers nur hohe und vornehme Personen verweilen. Späterhin werden wir in der Läuterung selbst die Seelen einige Päpste in nichts vor denen der Reuigen bevorzugt finden. Ueberhaupt läßt Dante erst hinter der Pforte die ewige Ordnung angehen und bis dahin die irdische fortdauern. Uebrigens deutet das Stillsitzen in diesem Thale wohl darauf, daß die Mächtigen der Erde durch den Glanz, von welchem sie umgeben sind, dem wahren Ziele, weder als Fürsten, noch als Menschen, auch nur um einen Schritt näher kommen. Sie stimmen den frommen Gesang V. 82 an, um aus dieser Pracht zu den Qualen der Läuterung zu kommen.

94 Kaiser Rudolph. S. die Anm. zum Ges. 6 V. 97.

97 Rudolph scheint im Anschauen Ottokars von Böhmen um deshalb Trost zu finden, weil er in seinem Benehmen gegen diesen seine Pflichten nicht so, wie, nach Dante's Vorwurf, gegen Italien vernachlässigt, vielmehr mit Kraft gethan hatte, was ihm als Kaiser oblag.

103 - 111 Philipp der Dritte, König von Frankreich (mit der kleinen Nase), spricht mit Heinrich dem Dritten von Navarra, dem Gütigen, dem Schwiegervater seines Nachfolgers, Philipp des Schönen. Im Kriege mit Peter dem Dritten von Arragonien mußte Philipp weil seine Flotte geschlagen war, sich aus Mangel an Lebensmitteln zurückziehen und starb auf diesem Rückzuge in Perpignan. Beide sind betrübt über Philipp den Schönen, ihren Sohn und Eidam, der in den Versen 109-111 eben nicht vortheilhaft geschildert wird.

112-114 Der Gliederstarke, Peter der Dritte von Arragonien. Der Adlernas'ge, Karl der Erste von Sicilien.

115-120 Der jüngste der Söhne Peters des Dritten, welchem nach des Vaters Tode kein Land zufiel, da die beiden anderen Söhne, Jacob und Friedrich, seine Staaten theilten.

124-127 Auch mit dem Nachfolger Karls des Ersten, mit Karl dem Zweiten, König von Sicilien und Grafen von Provence, ist der Dichter so wenig, als mit Jacob und Friedrich zufrieden.

128 Konstanza's Gatte, der vorgedachte Peter der Dritte.

129 Beatrice und Margarethe, Töchter Raimunds Berlinghier des Fünften, vermählt mit Ludwig dem Neunten von Frankreich, der im Jahre 1270 in Palästina starb und im Jahre 1297 von Bonifaz dem Achten heilig gesprochen wurde - und mit Karl dem Ersten, König von Sicilien welcher folglich, obwohl der Dichter ihn für besser hält als seinen Sohn, doch von ihm dem König von Arragonien nachgesetzt wird.

130 Heinrich der Dritte von England. Sein Sohn Eduard der Erste, welcher von 1272 bis 1307 regierte, war eben so ausgezeichnet durch seine Klugheit im Cabinet, als durch seine Tapferkeit im Felde, und verdankt beiden die Erwerbung des Fürstenthums Wales. Unter ihm machte die englische Verfassung große Fortschritte in ihrer Ausbildung.

134 Der irdischen Rangordnung gemäß kommen erst die Kaiser, dann die Könige, und tiefer sitzt dort Wilhelm, Markgraf von Monferrat , und blickt zu den Höheren empor. Er wurde von seinen Feinden, denen von Alessandria della Paglia, gefangen und getödtet. In dem Kampfe, der zur Rache dieses Mords von seinen Söhnen gegen Alessandria unternommen wurde, waren dieselben unglücklich, indem er mit der Verwüstung ihrer Besitzungen endete.