Uebersicht

Das Fegefeuer.

Vierter Gesang.

1 Wenn etwas, was und wohlthut oder kränkt,
Uns eine Seelenkraft in Aufruhr brachte,
Und sich die Seel' in diese ganz versenkt,
4 Dann scheint's, als ob sie keiner andern achte;
Und dieß beweist genugsam gegen den,
Der uns belebt von mehrern Seelen dachte.
7 Indem wir etwas hören oder sehn,
Was stark uns anzieht, ist die Zeit verschwunden,
Bevor wir's glauben und es uns versehn.
10 Denn anders wird die Kraft, die hört, empfunden,
Und anders unsrer Seele ganze Kraft;
Frei ist die erste, diese scheint gebunden. 1 - 12
13 Davon erhielt ich jetzo Wissenschaft -
Indessen ich gehorcht und stillgeschwiegen,
Weil Staunen mir die Seele hingerafft,
16 War funfzig Grad die Sonn' emporgestiegen, 16
Eh' ich's bemerkt - da ward ein Ruf mir kund
Von den gesammten Seelen: "Seht die Stiegen!"
19 Die Oeffnung, die mit einem Dorngebund, 19
Wenn sich die Traube bräunt, die Winzer schließen,
Ist weiter oft, als hier der Felsenschlund,
22 Durch welchen uns die Seelen klimmen hießen.
Er vor, ich folgend, stiegen wir allein
Den Felsweg, da die Andern uns verließen.
25 Empor zu Bismantova, und bergein
Bei Noli kann man auf den Füßen dringen, 25 - 26
Doch wer hier aufstrebt, muß beflügelt sein;
28 Ich meine, mit der großen Sehnsucht Schwingen,
Die mich dem Führer nachzog mit Gewalt,
Der Licht mir gab, und Hoffnung zum Gelingen.
31 Wir stiegen innerhalb dem Felsenspalt,
Von ihm bedrängt, und fanden kaum mit Händen
Und Füßen unter uns am Boden Halt.
34 Nachdem wir aus den rauhen schroffen Wänden
Emporgelangt zum offenen Gestad,
Da fragt' ich: ""Meister, sprich, wohin uns wenden?""
37 Und Er: "Mir nach, zur Höhe geht dein Pfad!
Rückwärts darf keiner deiner Schritte weichen,
Bis irgendwo ein kund'ger Führer naht!"
40 Den Gipfel konnte kaum der Blick erreichen;
Die Seite ging, stolz, senkrecht fast, hinan,
Dem Hang der Pyramide zu vergleichen. 42
43 Ich war bereits ermattet und begann:
""O süßer Vater, peinlich wird die Reise!
Schau her und sieh, daß ich nicht folgen kann!""
46 "Bis dorthin schleppe dich!" So sprach der Weise,
Und zeigt' auf einen Vorsprung nahe dort, 47
Von dem es schien, daß er den Berg umkreise.
49 Mir war ein Sporn des edlen Meisters Wort,
Mit aller Kraft die Reise fortzusetzen;
So kroch ich bis zum Bergesgürtel fort.
52 Und dort verweilten wir, um uns zu setzen,
Ostwärts nach dem erklommnen Pfad gewandt,
An dem sich gern der Wandrer Blicke letzen.
55 Die Augen kehrt' ich erst zum tiefen Strand,
Dann, als ich sie zur Sonn' emporgeschlagen,
Die uns zur Linken, Gluten sprühend, stand,
58 Da sah Virgil, daß ich des Lichtes Wagen
Anstaunte, weil er zwischen Mitternacht
Und unserm Standort schien dahin zu jagen,
61 Und sprach: "Wenn jenem Spiegel ew'ger Macht
Castor und Pollux jetzt Begleiter wären,
Ihm, welcher auf- und abführt Licht und Pracht,
64 So würd' er, kreisend näher bei den Bären,
Wenn er vom alten Weg nicht abgeirrt,
Mit seiner Glut den Zodiak verklären.
67 Bedenke nur, wenn dich dies Wort verwirrt,
Daß dieser Berg mit Zions heil'gen Höhen
Begränzt von einem Horizonte wird,
70 Doch Beid' auf andern Hemisphären stehen;
Die Bahn, die Phaëton, der Thor, durchreis't,
Ist drum von hier zur linken Hand zu sehen,
73 Indeß sie dorten sich zur rechten weis't -
So hoff' ich denn, daß du zur klaren Kenntniß,
Wenn du wohl aufgemerkt, gefördert seist."
76 ""Gewiß, mir ward so klar noch kein Verständniß,
Als hier,"" begann ich, ""wo mir dein Beweis
Ersetzt den Mangel eigener Erkenntniß.
79 Der ewigen Bewegung mittler Kreis,
Den man Aequator in der Kunst benannte,
Der fest bleibt zwischen Sonn' und Wintereis,
82 Zeigt, wie ich wohl aus deiner Red' erkannte,
Sich nordwärts hier, wie ihn die Juden sahn, 55 - 83
Wenn sich ihr Antlitz gegen Süden wandte.
85 Doch sprich, wie weit hinauf geht unsre Bahn?
Denn sieh, so hoch, wie kaum die Augen kommen,
Steigt ja des Berges Gipfel himmelan.""
88 Und Er: "Wer ihn zu steigen unternommen
Trifft große Schwierigkeit an seinem Fuß,
Die kleiner wird, je mehr man aufgeklommen.
91 Drum, wird dir erst die Mühe zum Genuß,
Erscheint dir's dann so leicht, empor zu steigen,
Als ging's im Kahn hinab den schnellen Fluß,
94 Dann wird sich bald das Ziel des Weges zeigen,
Dann wirst du sanft von deinen Mühen ruhn.
Dies ist gewiß, vom Andern will ich schweigen." 85 - 96
97 Er sprach's, und eine Stimm' ertönte nun
Ganz nah' bei uns: "Eh' ihr so weit gegangen,
Wird euch vielleicht zu sitzen nöthig thun."
100 Wir sahn dorthin, woher die Wort' erklangen,
Und linkshin lag ein Felsenblock uns nah',
Der bis dahin mir und auch ihm entgangen.
103 Hin schritten wir, und fanden Leute da
Verdeckt vom Felsen und in seinem Schatten,
In welchen ich ein Bild der Trägheit sah.
106 Und Einer, wie im gänzlichen Ermatten, 106
Saß dorten und umarmte seine Knie,
Die das gesunk'ne Haupt inmitten hatten.
109 ""Der ist gewiß der Faulheit Bruder! sieh,""
Begann ich, ""sieh nur hin, mein süßer Leiter,
Denn sicher sahst du einen Trägern nie.""
112 Da kehrt er sich zu mir und dem Begleiter,
Hob, doch nur bis zum Schenkel, das Gesicht,
Und sprach: "Bist du so stark, so geh nur weiter."
115 Und da erkannt' ich ihn, und säumte nicht,
Noch athemlos vom Klettern, vorzustreben,
Bis hin zu ihm, und sah ihn, als ich dicht
118 Schon bei ihm stand, das Haupt kaum merkbar heben.
"Zur Linken fährt der Sonnenwagen fort,"
Begann er nun, "hast du wohl Acht gegeben?"
121 Ich mußte lächeln bei dem kurzen Wort
Und bei den faulen, langsamen Geberden;
Worauf ich sprach: ""Belacqua, dieser Ort,
124 Bezeugt mir deutlich, du wirst selig werden.
Doch sprich: harrst du des Führers sitzend hier?
Wie? oder treibst du's hier noch, wie auf Erden?"
127 Und Er: "Was, Bruder, hilft das Steigen hier?
Ich würde doch zur Qual nicht kommen sollen,
Denn Gottes Pförtner weis't mich weg von ihr.
130 Hier außen muß um mich der Himmel rollen, 130
So oft als er im Leben that, da spät
Und erst im Tod mein Herz bereuen wollen,
133 Wenn mir nicht früher beispringt das Gebet,
Das sich aus gläub'ger Brust emporgerungen.
Was hülf' ein andres, da es Gott verschmäht?"
136 Schon war vor mir Virgil hinaufgedrungen,
Und rief: "Jetzt komm, schon hat in lichter Pracht
Die Sonne sich zum Mittagskreis geschwungen,
139 Und Mauritanien deckt der Fuß der Nacht." 139

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Fünfter Gesang

Anmerkungen:

1-12 Der Dichter kämpft hier gegen die Meinung derer, welche behaupteten, der Mensch habe mehrere Seelen, insonderheit eine denkende und eine fühlende. Wäre dies wahr, so würde jede selbständig für sich wirken können. Da aber die Seele nur Eine ist, jedoch mehrere Kräfte hat, so nimmt diejenige Kraft, welche eben einen starken Eindruck empfängt, den ganzen Menschen in Anspruch und hemmt die Thätigkeit der übrigen Kräfte.

16 Die 360 Grade, in welche die Himmelskugel getheilt ist, werden von der Sonne scheinbar in 24 Stunden, folglich 15 Grade in einer Stunde durchlaufen. Als die Sonne 50 Grade zurückgelgt hatte, mußte es also in der heiligen Woche, in welcher der Dichter seine Reise machte, ungefähr 9½ nach deutscher Uhr sein.

19 Auch in Deutschland werden hin und wieder die engen Treppen, welche die Weinberge hinauführen, beim Reifen der Trauben mit Dornen gesperrt, daher dies Bild wohl verständlich sein wird.

25 - 26 Bismantova, ein hoher Berg bei Reggio. Noli, eine Stadt im Genuesischen zwischen Savona und Finale.

42 Durch obiges Bild hat der Uebersetzer ein anderes des Originals ersetzen müssen, da letzteres nicht vollständig zu übersetzen war. Es heißt dort: die Seite des Felsens hob sich stolzer, als die Regel des Quadranten aus der Mitte nach dem Centrum, welche folglich eine Linie mitten inne zwischen der Horizontal- und Perpendikular-Linie bezeichnet.

Im Original (V. 40-42):
Lo sommo er' alto che vincea la vista,
E la costa superba più assai
Che da mezzo quadrante a centro lista.
In der Übersetzung von H. Gmelin heißt es:
Den Gipfel konnt' das Auge nicht erreichen,
Und seines steilen Aufstiegs Winkel faßte
Mehr als die Hälfte eines Viertelkreises.
CN

47 Damit die Leser, der Reise des Dichters folgend, sich im Voraus von der Oertlichkeit einen klaren Begriff machen mögen, wird bemerkt, daß der Weg durch enge Stiegen immer zu einem Vorsprunge führt, welcher einen rings um den Berg führenden ebenen umd schmalen Weg bildet. Verfolgt man einen solchen Weg, so hat man zu der einen Seite nach außen hin einen leeren Raum, der den Berg umgiebt, zur andern aber die Felsenwand, durch welche die steile Treppe zu dem nächsten Vorsprunge oder Kreise führt. Der Läuterungsberg hat also die Gestalt des Höllentrichters, jedoch umgekehrt, indem er wie dieser zur Hölle hinabgeht und in der Tiefe enger wird, so zur Höhe hinaufsteigt.

55 - 83 Der Dichter zieht in Gedanken von Jerusalem aus durch den Mittelpunkt der Erde nach der andern Halbkugel eine Linie, an deren Ende der Berg des Fegefeuers liegt. Wir finden daher denselben auf der südlichen Halbkugel. Von dieser aus aber erscheint die Sonne gegen Norden, dem Dichter also jetzt, da er daß Gesicht nach Osten wendet, zur linken Hand. - In das Zeichen der Zwillinge (Castor und Pollux) tritt die Sonne (der Spiegel ewiger Macht) am 21. Mai, wo sie also um zwei Zeichen des Thierkreises nördlicher als im ersten Frühlinge steht. Zu dieser Zeit also würde dem Dichter der nördliche Lauf derselben noch auffallender sein.

85 - 96 Indem der Mensch im Beginn eines bedeutenden Strebens das Ziel desselben scharf ins Auge faßt, scheint es ihm so entfernt und der Weg dahin so schwierig, daß er fast die Hoffnung verliert, es je zu erreichen. Aber die Vernunft sagt ihm, daß sich die Schwierigkeit mit jedem Fortschritte mindert, und daß, je mehr wir dem Ziele uns nähern, die Mühe selbst zum Genusse wird.

106 Wir sehen hier einen Faulen, welcher, nicht ohne einen Anflug gutmüthigen Spottes, das lebendige Streben der Andern betrachtet und mit möglichst kurzen Worten, in seiner bequemen Stellung sich kaum bewegend, auf das, was er hier für besonders merkwürdig hält, aufmerksam macht. Dieser Belacqua war, nach Benvenuto d'Imola, ein Meister in der Verfertigung von Zithern und Lauten, deren Hälse und Köpfe er mit künstlicher Schnitzarbeit verzierte, selbst Musiker, und durch Dante's Liebe zur Musik mit ihm befreundet.

130 Diejenigen, die bis an den Tod die Reue verschieben, müssen, ehe sie zur Läuterung zugelassen werden, so lange warten, als ihr ganzes Leben gedauert hat.

139 Wenn es auf dem Berge des Fegefeuers, den man sich im stillen Ocean zwischen Südamerika und Neuholland denken mag, Mittag ist, muß es in Jerusalem Mitternacht sein, in Marocco aber zur Zeit der Tag- und Nachtgleiche Nacht werden.