Uebersicht

Das Fegefeuer.

Dritter Gesang.

1 Trieb jähe Flucht auch Alles, was vereinigt
Beim Sänger war, zerstreut jetzt durch den Plan,
Dem Berge zu, wo die Vernunft uns peinigt, 3
4 Doch drängt' ich mich dem treuen Führer an.
Wie konnt' ich ihn auch bei der Reise missen?
Wie kam ich wohl ohn' ihn den Berg hinan?145
7 Er schien gepeinigt von Gewissensbissen. 7
O würdig reine Seele, wie empört,
Wie quält der kleinste Fehler dein Gewissen!
10 Als seines Laufes Eil' nun aufgehört,
Bei welcher Würd' im Anstand nimmer waltet,
Da ward mein Geist, verengt erst und verstört,
13 Zum Streben neu erweitert und entfaltet,
Und das Gesicht dem Berge zugewandt,
Sah ich dem Himmel zu, ihn hochgestaltet.
16 Die Sonne, hinter mir in rothem Brand,
War vor mir, nach Gestaltung und Geberde,
Gebrochen, da mein Leib ihr widerstand.
19 Und bang, daß ich allein gelassen werde, 19
Kehrt' ich mich schleunig seitwärts, da ich sah,
Beschattet sei vor mir allein die Erde.
22 "Was argwöhnst du?" begann mein Tröster da,
Zu mir gewandt, errathend, was ich dachte,
"Glaubst du, ich sei dir nicht, wie immer, nah'?"
25 Dort liegt der Leib, in dem ich Schatten machte,
An Napels Strand, den jetzt schon Nacht umflicht,
Wohin man einst von Brindisi ihn brachte. 25-27
28 Beschatt' ich jetzt vor mir die Erde nicht,
So staune nicht darum - deckt doch der Schimmer 29
Des einen Himmels nie des andern Licht.
31 Dergleichen Körper schafft der Herr noch immer,
Damit sie dulden Hitz' und Frost und Pein,
  Doch wie er's macht, entschleiert er uns nimmer.
34 Thor, wer da hofft, er dringt in Alles ein,
Mit der Vernunft, selbst in endlose Sphären,
Wo Er, der Ew'ge, Einer ist in Drei'n.
37 Strebt, Menschen, doch das Wie nicht aufzuklären;
Denn wär's gestattet, Alles zu erschau'n,
Nicht brauchte dann Maria zu gebären.
40 Wohl Mancher durft' auf seinen Geist vertrau'n,
Dem noch die Sehnsucht, Alles zu erkunden,
Geblieben ist zum ewiglichen Grau'n.
43 Du weißt, wo wir den Plato aufgefunden
Und Manchen sonnst." - Er schwieg, die Stirn geneigt, 44
Und alle Heiterkeit schien ihm geschwunden.
46 Wir kamen hin, von wo man aufwärts' steigt,
Dort oben ist der Fels so steil gelegen,
Daß sich kein Raum zu einem Tritte zeigt.
49 Der rauh'ste von den öden Felsenwegen
Inmitten Lerci und Turbía schmiegt 49-50
Sich sanft und leicht, stellt man ihn dem entgegen.
52 "Wer weiß, zu welcher Hand der Hang sich biegt,"
Der Meister sprach's, und hielt jetzt ein im Schreiten,
"So daß auch der hinauf kann, der nicht fliegt?"
55 Er ließ indeß den Blick zum Boden gleiten,
Und nahm im Geist des Pfades Prüfung wahr.
Doch ich sah aufwärts nach des Berges Seiten,
58 Und da erschien mir linksher eine Schaar,
Die schien so langsam zu uns her zu schweben,
Daß kaum Bewegung zu bemerken war.
61 ""Laß,"" sprach ich, ""Meister, deinen Blick sich heben,
Die Rath ertheilen können, nahen schon,
Dafern du nicht vermagst, ihn selbst zu geben.""
64 Frei schaut' er auf, und alle Sorgen flohn.
"Nur langsam," sprach er, "geht ihr Gang von statten,
Drum gehn wir hin. Getrost jetzt, süßer Sohn!"
67 Wir waren noch entfernt von jenen Schatten,
Und ihnen etwa steinwurfweit genaht,
Als wir gethan an tausend Schritten hatten.
70 Da drängten Alle sich aus Felsgestad
Und standen still und dicht, uns zugewendet,
Wie wen Bedenken hemmt auf seinem Pfad.
73 "O Auserwählte, die ihr wohl geendet,"
Begann Virgil, "wie einst euch Friede letzt,
Den, wie ich glaube, Gott euch Allen spendet,
76 So zeigt und des Gebirges Abhang jetzt,
Und laßt uns einen Weg nach oben sehen,
Denn Zeit verlieren schmerzt den, der sie schätzt."
79 Gleich wie die Schäflein aus dem Stalle gehen, 79
Eins, zwei und drei, indessen noch verzagt
Die andern mit gebeugten Köpfen stehen,
82 Bis was das erste that, nun jedes wagt,
Wenn jenes harrt, geduldig die Beschwerde
Des Drangs erträgt und nach dem Grund nicht fragt;
85 So sah ich jetzt von der beglückten Heerde
Die Vordern sich bewegen und uns nahn,
Das Antlitz züchtig, ehrbar die Geberde.
88 Wie sie das Licht zur Rechten meiner Bahn 88
Getheilt, und, als des Erdenleibes Zeichen,
Die Felsenwand von mir beschattet sahn,
91 Sah ich sie stehn und etwas rückwärts weichen.
Die Andern wußten zwar nicht, was geschehn,
Doch Alle thaten sie sofort desgleichen.
94 "Ohn' eure Frage will ich euch gestehn,
Noch einem Menschen ist der Körper eigen,
Von welchem ihr das Licht getheilt gesehn.
97 Doch laßt Verwunderung und Staunen schweigen;
Nicht ohne Kraft, die Gott nur geben kann,
Sucht er die schroffe Wand zu übersteigen."
100 Mein Hort sprach's, und die würd'ge Schaar begann,
Uns mit der Hände Rücken Zeichen gebend: 101
"Kehrt wieder um, und schreitet uns voran!"
103 Und einer drauf, zu mir die Stimm' erhebend:
"Wer du auch seist, blick' um, mich anzuschau'n,
Besinne dich: Sahst du mich jemals lebend?"
106 Ich wandt' auf ihn die Augen voll Vertrau'n.
Blond war er, schön, von würdigen Geberden, 107ff.
  Doch war gespalten eine seiner Brau'n.
109 Demüthig sagt' ich, daß ich ihn auf Erden
Niemals gesehn; da aber hieß er mich
Aufmerksam auf die Wund' am Busen werden,
112 Und lächelnd sprach er dann: Manfred bin ich!
Wenn dich zur Welt zurück die Schritte tragen,
Zu meiner Tochter geh', ich bitte dich,
115 Die unterm Herzen jenes Paar getragen,
Das Arragonien und Sicilien ehrt,
Ihr Wahres, wenn man Andres sagt, zu sagen.
118 Als zweimal mich durchbohrt' des Feindes Schwert,
Da übergab ich weinend meine Seele
Dem Richter, der Verzeihung gern gewährt.
121 O groß und schrecklich waren meine Fehle,
Doch groß ist Gottes Gnadenarm, und faßt,
Was sich ihm zukehrt, so, daß Keiner fehle,
124 Und wenn Cosenza's Hirt, der sonder Rast,
Wie Clemens wollte, mich gejagt, dies eine
Erhabne Wort der Schrift wohl aufgefaßt,
127 So lägen dort noch meines Leib's Gebeine
Am Brückenkopf bei Benevent, vom Maal
Geschützt der schweren aufgehäuften Steine.
130 Nun netzt's der Regen, dorrt's der Sonnenstrahl,
Dort, wo er's hinwarf, mit verlöschten Lichten,
Dem Reich entführt, entlang dem Verde-Thal,
133 Doch kann ihr Fluch die Seele nicht vernichten,
  Aus welcher nicht die frohe Hoffnung weicht,
  An ew'ger Liebe neu sich aufzurichten.
136 Wahr ist's, daß, wer im Kirchebann erbleicht,
Wär' auch zuletzt in ihm die Reu' entglommen,
Doch dieser Felswand Höhe nicht erreicht,
139 Bis dreißigmal die Zeit, seit ihm genommen
Der Kirche Segen ward, verflossen ist,
Kürzt diese Zeit nicht ab das Flehn der Frommen.
142 Sieh, ob du mir zum Heil gekommen bist,
Wenn du Constanzen, wie du mich gesehen,
Entdeckst und ihr verkündest jene Frist,
145 Denn viel gewinnt man hier durch euer Flehen."

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Vierter Gesang

Anmerkungen:

3 Wo die Vernunft uns peinigt. Im Orig. wörtlich: Wo die Vernunft uns durchsucht oder durchwühlt, d. h. wo sie uns antreibt, uns zu erforschen, um unsere Fehler zu erkennen. Die Pein, welche die erlangte Selbsterkenntniß uns veranlaßt, treibt uns zur Reinigung von den sündigen Neigungen. Erst auf dem Gipfel des Berges, wenn wir nach vollbrachter Läuterung, nach errungener Freiheit in der Lethe diese Erinnerung abwaschen, hört die Pein derselben auf.

7 Virgil selbst, die menschliche Vernunft darstellend, hatte sich von der Lust am Gesange, also von gewohnter irdischer Neigung, hinreißen lassen, die ihm aufgetragene Führung zu vergessen, und schämt sich seines Fehlers sowohl als der unmittelbaren Folgen desselben - der eiligen Flucht.

19 Dante, welcher im Dunkel der Hölle Virgils Schatten weder bemerken, noch vermissen konnte, sieht erst jetzt, da ihm die Sonne im Rücken steht, erschrocken, daß sein Leib allein einen Schatten vor ihm hinwirft, und glaubt sich, da er den des Führers nicht sieht, von ihm verlassen.

25-27 Virgil starb zu Brindisi und wurde zu Neapel begraben. Daß es dort eben Abend werden mußte, erläutert sich durch das, was oben bei V. 1 - 9 des zweiten Gesanges bemerkt ist.

29 Der Dichter denkt sich unter dem Himmel, oder vielmehr unter den vorausgesetzten verschiedenen Kreisen des Himmels, mehrere über einander gespannte, durchsichtige Gewölbe.

44 Man wird sich nach Lesung des vorhergegangenen schönen Stelle erinnern, daß Virgil selbst sich im Vorhofe der Hölle bei denjenigen befindet, welchen nichts zur Seligkeit fehlt, als der Glaube.

49-50 Lerici und Turbia, zwei Orte im Strandgebirge von Genua. Die ersten Schritte auf dem Wege zur sittlichen Freiheit sind schwer. Die Vernunft selbst weiß diesen Weg kaum zu finden, und ist schwankend und unsicher.

79 Wenn wir in der Hölle die in der Sünde versunkenen Geister allenthalben in Streit und Haß unter sich gefunden haben, so finden wir dagegen die sich läuternden liebevoll verbunden, und sich an einander anschließend. Gewiß ist Liebe die erste Frucht des ernsten Strebens nach sittlicher Freiheit.

88 Schon in der Hölle waren die Schatten erstaunt, wenn sie bemerkten, daß Dante ein Lebender sei. Auch hier zeigen die Seelen dasselbe Erstaunen. Wir dürfen hierin keine tiefere allegorische Bedeutung suchen, werden aber leicht erkennen, daß dieser Zug ein nothwendiger in der poetischen Gestaltung des Werks ist.

101 Dieses Zeichen, bei welchem man den Rücken der Hand dem Andern zukehrt und die Finger von sich selbst abwärts und nach jenem zu bewegt, bedeutet, daß der, dem man winkt, nicht weiter vorwärts gehen, sondern umkehren solle. Hier wird von den Seelen dieses Zeichen deswegen gemacht, weil die beiden Dichter, statt sich auf dem eingeschlagenen Wege den Stiegen zu nähern, sich davon entfernt haben würden.

107 ff. Der hier erscheinende Schatten ist der Hohenstaufe Manfred, der schöne, glänzende und lebenslustige König von Neapel. Von der Kirche immer bekämpft und sie bekämpfend, stürzte er sich, als er die Schlacht bei Benevent, die über sein Reich entscheiden sollte, gegen den von Clemens dem Vierten unterstützen Karl von Anjou verloren sah, den Tod suchend und findend, in die Feinde. Sein Leichnam wurde mit zwei tödtlichen Wunden am Haupte und in der Brust aufgefunden. Vergebens baten die französichen Großen ihren Herrn, daß er dem Todten ein ehrenvolles Begräbniß bewilligen möge. Karl blieb selbst gegen den besiegten Feind grausam, und schlug es ab, weil, wer im Kirchenbann gestorben, nicht in geweihter Erde ruhen dürfe. So ward er ungeehrt bei der Brücke von Benevent verscharrt. Aber edelmüthiger, als der Führer, war das Heer der Feinde, und errichtete ihm ein Ehrendenkmal, indem jeder Soldat auf sein Grab einen Stein trug. Doch auch dieses Grab und dieses Denkmal gönnte ihm die unversöhnliche Kirche nicht. Nicht einmal so viel Erde, als ein Todter zur Ruhestätte braucht, sollte er von seinem Reiche besitzen. So ward sein Leichnam auf Anordnung des Kardinal-Legaten, Erzbischofs von Cosenza, wieder ausgegraben und nach der Gränze von Abruzzo gebracht. Dort in einem vom Verde durchströmten entlegenen Felsthale wurde er verscharrt, mit verlöschten Lichtern, weil beim Begräbnisse eines im Kirchenbann Gestorbenen nicht nur alle kirchlichen Feierlichkeiten unterbleiben, sondern auch der Priester die Lichter auslöscht.

Constanze, Manfreds Tochter von seiner ersten Gemahlin Beatrix, war mit Peter von Arragonien vermählt, und Mutter Friedrichs und Jacobs, von welchen V. 116 die Rede ist. Dante soll sie, wie Manfred bittet, wenn dort behauptet werde, er sei, als im Kirchenbann verstorben, verdammt, eines Bessern belehren, aber auch sie bitten, daß sie für ihn flehen möge, damit er zeitiger zur Läuterung zugelassen werde. Denn am Fuße des Berges und vor der Pforte des Fegefeuers, zu welcher wir im neunten Gesange gelangen, müssen nicht nur die Gebannten, sondern auch diejenigen, welche zu spät ihre Sünden bereut und sich zu Gott gekehrt haben, so lange harren, bis die bestimmte Zeit verflossen ist, wenn nicht frommes Flehen diese Zeit abkürzt. - Worauf die V. 133 ausgesprochene Doctrin sich gründe, nach welcher Jeder dreißigmal so lange, als er im Kirchenbann gelebt, vor der Pforte des Reinigungsortes warten müsse, wissen wir nicht anzugeben. Landino meint, die Zahl dreißig sei vom Dichter willkürlich statt jeder andern beliebigen Zahl angenommen.