Uebersicht

Das Paradies.

Funfzehnter Gesang.

1 Gewogner Will', in welchem immer dir
Sich offen wird die echte Liebe zeigen,
Wie böser Wille kund wird durch Begier,
4 Gebot der süßen Leier Stilleschweigen
Und hielt im Schwung der heil'gen Saiten ein,
Die Gottes Rechte sinken macht und steigen.
7 Wie werden taub gerechter Bitte sein
Sie, die einhellig den Gesang itzt meiden,
Um Muth zur Bitte selbst mir zu verleihn.  1-9
10 O, wohl verdienen ewiglich zu leiden
Die, weil die Lieb' in ihrer Brust erwacht
Für Irdisches, sich jener Lieb' entkleiden.
13 Wie durch die Heiterkeit der stillen Nacht
Oft Feuer läuft, vom Augenblick geboren,
und des Beschauers Augen zücken macht,
16 Gleich einem Stern, der andern Platz erkoren,
Nur, daß an jenem Ort, wo er entbrannt,
Sich nichts verliert und Er sich schnell verloren;
19 So sah ich aus dem Arm zur rechten Hand  19
Jetzt einen Stern zum Fuß des Kreuzes wallen,
Aus jenem Sternbild, das dort glänzend stand.
22 Die Perl' war nicht aus ihrem Band gefallen;  22
Sie lief am lichten Streif dahin, und war
Wie Feuer hinter glänzenden Krystallen.
25 So, redet unsre größte Muse wahr,  25
Stellt in Elysiums Hainen seinem Sprossen,
Anchises sich mit frommer Liebe dar.
28 "O, du, mein Blut, auf welches sich ergossen
Die Gnade hat, wem hat der höchste Hort
Zweimal, wie dir, des Himmels Thür erschlossen?"
31 Mir zog den Geist zum Lichte dieses Wort;  28-31
Drauf, als ich mich zu meiner Herrin wandte,
Ward mir Entzückung, Staunen, hier, wie dort,
34 Weil ihr im Auge solch ein Lächeln brannte,
Daß, wie ich glaubte, meins den Grund darin
Von meinem Himmel, meiner Gnad' erkannte.  32-36
37 Der Geist dann fügte Dinge zum Beginn,
Er, angenehm zu hören und zu sehen,
Die ich nicht faßte vor zu tiefem Sinn.
40 Doch wollt' er nicht, ich soll' ihn nicht verstehen;
Es mußte sein, weil Reden solcher Art
Weit übers Ziel der Menschen-Fassung gehen.
42 Doch als der Schwung, in dem sich offenbart
Der Liebe Glut, in so weit nachgelassen,
Daß jenes Ziel nicht überflogen ward,
46 Sprach er, was ich nun fähig war, zu fassen:
"Preis Dir, Drei-Einer, der du auf mein Blut
So reich an Gnade dich herabgelassen."
49 Und dann: "Der Sehnsucht lange, süße Glut,  49
Entflammt, da ich im großen Buch gelesen,
Das kund umwandelbar die Wahrheit thut,
52 Stillst du, mein Sohn, im Licht, aus dem mein Wesen
Jetzt freudig zu dir spricht: Dank Ihr, die dich  53
Zum Flug beschwingt und dein Geleit gewesen!
55 Du glaubst, daß Alles, was du denkst in mich
Vom Urgedanken strömt, denn es entfalten
Die fünf und sechs ja aus der Einheit sich;  57
58 Drum fragst du nicht nach mir und meinem Walten
Und weshalb höher meine Freude scheint,
Als die der andern dieser Lichtgestalten.
61 Dein Glaub' ist wahr, weil Groß und Klein, vereint
In diesem Reich, nach jenem Spiegel blicken,
Wo, eh' du denkest, der Gedank' erscheint.
64 Doch um die Lieb', in die mit wachen Blicken
Ich ewig schau', und die die Süßigkeit
Der Sehnsucht zeugt, vollkommner zu erquicken,
67 Erklinge sicher, kühn, voll Freudigkeit
Die Stimm' in deinem Willen, deinem Sehnen,
Und die Entgegnung drauf ist schon bereit."  64-69
70 Ich sah auf Sie, die, eh' die Wort' ertönen,
Mich schon versteht, und, lächelnd im Gesicht,
Hieß sie mich frei des Willens Flügel dehnen.
73 Ich sprach: ""Die Neigung und des Geistes Licht
Sind, seit die erste Gleichheit ihr ergründet,
Bei Jeglichem von euch im Gleichgewicht,
76 Weil euch die Sonne, die euch hellt und zündet
Mit Licht und Glut, damit sogleich durchdringt,
Daß man, was sonst sich gleicht, hier ungleich findet.
79 Doch Will' und Witz, wie sie der Mensch erringt,
Sie sind aus dem euch offenbaren Grunde
Mit sehr verschiedner Kraft zum Flug beschwingt.
82 Dies fühl' ich Sterblicher in dieser Stunde,
Und danke deine Vaterliebe dir
Drum mit dem Herzen nur, nicht mit dem Munde.
85 O du lebendiger Topas, du Zier
Des edlen Kleinods, hell in Glanz entglommen,
Still' itzt, dich nennend, meine Wißbegier!""  73-84
88 "Mein Sproß, längst froh erwartet, jetzt willkommen,
In mir sieh deine Wurzel!" So der Geist,
  Und setzt' hinzu, nachdem ich dies vernommen:
91 "Und Er, nach welchem dein Geschlecht sich heißt,
Der hundert Jahr und mehr für stolzes Wesen
Des Berges ersten Vorsprung schon umkreist,
94 Er ist mein Sohn, dein Urgroßahn, gewesen,
Und dir geziemt's, von solcher langen Pein
Durch gute Werk' ihn schneller zu erlösen.
97 Florenz im alten Umkreis, eng und klein,
Woher man jetzt noch Terzen hört und Nonen,
War damals friedlich, nüchtern, keusch und rein.  97-99
100 Nicht Kettchen hatt' es damals noch, nicht Kronen,  100
Nicht reichgeputzte Frau'n - kein Gürtelband,
Das sehenswerter war, als die Personen.
103 Bei der Geburt des Töchterleins empfand  103
Kein Vater Furcht, weil man zur Mitgift immer,
So wie zur Zeit, die rechten Maße fand.
106 Und öde, leere Häuser gab's da nimmer;  106
Nicht zeigte dort noch ein Sardanapal,
  Was man vermag in Ueppigkeit der Zimmer.
109 Nicht übertroffen ward der Montemal  109
Von dem Uccellatojo noch im Prangen,
Und wie im Steigen, also einst im Fall.
112 Ich sah vom schlichten Ledergurt umfangen
Bellincion Berti noch, und sah sein Weib
Vom Spiegel gehn mit ungeschminkten Wangen.
115 Ich sah ein unverbrämtes Wamms am Leib
Des Nerli und des Vecchio - und den Frauen
War Spill' und Rocken froher Zeitvertreib.  112-117
118 Glücksel'ge Frau'n! in eurer Heimath Auen  118
War euch ein Grab gewiß - durch Frankreichs Schuld
War Keiner noch das öde Bett zum Grauen.
121 Die, wach und emsig an der Wiege, lullt'
In jener Sprach' ihr Kindlein ein, die Jeden,
Der Vater ist, entzückt in Süß' und Huld.
124 Die, ziehend aus dem Rocken glatte Fäden,
Letzt' ihrer Kinder Kreis vom Römer-That,
Von Troja, Fiesole, mit klugen Reden.
127 Was ihr an einer Cianghella saht,  127
An Salterell, solch Wunder hätt's gegeben,
Als itzt Cornelia gäb' und Cincinnat.
130 So ruhigem, so schönem Bürgerleben,
So treuer Bürgerschaft, so theurem Land,
Gab mich Maria, die mit Angst und Beben
133 Die Mutter anrief, als sie Weh'n empfand,
  Und dort, in unserm Taufgebäu, dem alten,  134
  Ward ich ein Christ, und Cacciaguid genannt.
136 Zwei Brüder hatt' ich, und zu treuem Walten
Im Hause, kam die Gattin mir vom Po,
Von der den zweiten Namen du erhalten.  137-138
139 Dem Kaiser Konrad folgt' und dient' ich, so,  139
  Daß er mich weihte zu des Ritters Ehren,
  Und immer blieb ich seiner Gnade froh.
142 Mit ihm wollt' ich des Gräuels Reich zerstören,
  Deß Volk, durch eurer Hirten Fehler, sich
  Der Länder anmaßt, die euch angehören.
145 Und dort, von jenem schnöden Volk, ward ich
  Vom Trug der Welt entkettet und geschieden,
  Der viele Herzen jeder Zeit beschlich,
148 Und kam vom Märtyrthum zu diesem Frieden.
   

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Sechszehnter Gesang

Erläuterungen:

1-9 Die echte Liebe zeigt sich in dem Willen, Andern zu geben - die falsche in der Begier, zu empfangen. Aus jener Liebe schweigen jetzt die Seligen, um den Wünschen Dante's zu genügen.

19 Aus dem Arme des Kreuzes.

22 Die Perl', der Glanz des Seligen, welcher dem Dichter entgegenkam, trennte sich nicht zufällig aus dem Kleinod, dem Kreuze, welches mit ihr geschmückt war. Vielmehr bewegte sich dieser Glanz, um sich dem Dichter zu nähern, am Streife des Kreuzes herab, und gab den anderen Seligen, die bei seinem Nahen in höherer Liebe entglommen, wo er vorüberzog, einen höhern Schimmer. Vergl. V. 110 und 111 im vorigen Gesange.

25 Der Selige ist, wie wir bald erfahren, Cacciaguida, Urahn des Dichters. Seine Liebe und Freude glich der des Anchises, als er seinen Sohn Aeneas in der Unterwelt wiedersah. (Aeneis IV. 680 ff.)

28-31 Diese Verse sind im Originale lateinische. Cacciaguida prophezeit hier seinem Urenkel die Seligkeit, indem er sagt, daß demselben die Thür des Himmels zweimal, einmal jetzt, noch während seines Lebens, das zweite Mal künftig, nach seinem Tode, aufgeschlossen sei.

32-36 Durch diese Stelle erläutert sich näher, was am Schlusse des vorigen Gesanges enthalten und darüber bemerkt worden ist. Auch Beatricens Schönheit hat sich erhöht und entzückt ihn eben so, wie das, was ihn in diesem höhern Stern umgiebt.

49 Cacciaguida hat sich nach Dante gesehnt, weil er im großen Buche (in Gott) gelesen, daß er hier ankommen würde.

53 Dank Ihr, Beatricen.

57 Alle Zahlen entwickeln sich aus der vervielfältigten Einheit. So entfaltet sich Alles aus Gott, der ewigen Einheit, dem Quell, aus welchem Alles, was da ist, entspringt.

64-69 Cacciaguida hat in Gott Alles gelesen, was Dante wünscht. Aber um die Liebe, auf die sein Geist ewig gerichtet ist, noch mehr zu erquicken, will er ihn sprechen hören. Von welcher außerordentlichen Schönheit dieser Gedanke ist, wird gewiß kein Leser von gesundem Gefühl und Urtheil unerkannt und unempfunden lassen.

73-84 Wille und Einsicht sind bei dem, der die erste Gleichheit, Gott, in dem Alles Harmonie ist, erkannt hat, immer im Gleichgewicht. Aber der Mensch ist oft nicht klar über das, was das Herz will, und kann daher seinem Willen nicht Genüge thun. So Dante jetzt, da er dem Cacciaguida danken will.

97-99 Innerhalb des alten Umkreises von Florenz stand, nach den älteren Auslegern, zu des Dichters Zeit der Thurm mit der Schlaguhr, nach welcher man sich richtete.

100 Damals, in den Zeiten der alten Einfachheit, pflegten die Frauen sich noch nicht mit Flitterputz zu schmücken.

103 Man verheirathete die Töchter nicht zu früh, und gab ihnen eine mäßige, ihren Verhältnissen angemessene Mitgift.

106 Öde Häuser mußte es in Florenz wohl geben, da, wie in der Einleitung erzählt ist, die Mitglieder der verschiedenen Parteien sich öfters wechselweise in Masse verjagten.

109 Montemalo, jetzt Montemario, ein Berg nahe bei Rom nach Viterbo zu - Uccellatojo, ein Berg bei Florenz, nach Bologna zu gelegen. Von dem einen und andern Berge übersieht man die benachbarten Städte nach ihrem ganzen Umfange. Der Sinn ist also: damals wetteiferte Florenz noch nicht mit Rom an Schönheit und Größe.

112-117 Bellincion Berti, Nerli und Vecchio, adelige Familien in Florenz zur Zeit des Dichters.

118 Auch die Frauen traf oft die Verbannung. Ein Beispiel findet sich im Fegefeuer Ges. 13 V. 109. S. die dazu gehörige Anmerkung.

127 Cianghella, aus der edlen Florentinischen Familie della Tosa, verheirathet in Imola, führte nach dem Tode ihres Gemahls ein zügelloses Leben. - Salterello, ein ränkesüchtiger Advokat. - Wenn man damals, in den Zeiten der Einfachheit und Tugend, Männer und Frauen von solcher Sittenlosigkeit und Verderbtheit gesehen hätte, man wäre erstaunt gewesen, wie man es jetzt, in der Zeit der Sittenlosigkeit, sein würde, wenn man in Florenz Beispiele von altrömischer Tugend sähe.

134 Dem Taufgebäu, von diesem ist schon in der Hölle die Rede, Ges. 19 V. 16.

137-138 Die Ausleger sind nicht einig, aus welcher Stadt Cacciaguida's Gemahlin gebürtig gewesen sei. Durch sie erhielt die Familie, von Cacciaguida's Sohn an, den Beinamen Alighieri.

139 Cacciaguida begleitete Kaiser Konrad den Dritten auf dem Kreuzzuge, den dieser im Jahre 1147 auf Zureden Bernhards von Clairvaux unternahm, und fand im heiligen Lande seinen Tod.