Uebersicht

Das Paradies.

Fünfter Gesang.

1 "Wenn ich in Liebesgluth dir flammend funkle,  1
Mehr, als es je ein irdisch Auge sieht,
So, daß ich deines Auges Licht verdunkle,
4 Nicht staune drum  -  es macht, daß dies geschieht,
Vollkommnes Schauen, welches, wie's ergründet,
In dem Ergründeten uns weiter zieht.
7 Schon glänzt, ich seh's in deinem Blick verkündet,
In deinem Geist, ein Schein vom ew'gen Licht,
Das, kaum gesehen, Liebe stets entzündet.
10 Und liebt ihr, weil euch andrer Reiz besticht,  10
So ist's, weil, unerkannt, vom Licht, dem wahren,
Ein Strahl herein auf das Geliebte bricht.
13 Ob andrer Dienst, dies willst du jetzt erfahren,
Gebrochenes Gelübd' ersetzen kann,
Um vor dem Vorwurf euer Herz zu wahren?"
16 So fing ihr heil'ges Wort Beatrix an,
Und setzte dann, die Rede zu vollenden,
Ununterbrochen fort, was sie begann.
19 "Die größte Gab' aus Gottes Vaterhänden
Und seiner reichen Güte klarste Spur,
Von ihm geschätzt als höchste seiner Spenden,
22 Ist Willensfreiheit, so die Creatur,
Der Er Vernunft verlieh, von ihm bekommen,
Von diesen jede, doch auch diese nur.  24
25 Hieraus ersieh den hohen Werth des frommen  25
Gelübdes, wenn es so beschaffen ist,
Daß Gott, was du geboten, angenommen.
28 Denn, wer mit Gott Vertrag schließt, der vermißt
Sich, diesen Schatz zum Opfer darzubringen,
Mit dessen Werthe sich kein andrer mißt.
31 Wie kann drum je hier ein Ersatz gelingen?
Brauchst du auch wohl, was du geopfert hast,  32
So ist's nur Wohlthat mit gestohlnen Dingen.
34 Du hast das Wichtigste nun aufgefaßt,
Doch weil die Kirche vom Gelübd' entbindet,
So zweifelst du an meiner Wahrheit fast.
37 Drum bleib' am Tisch ein wenig noch. Hier findet,
Ob du auch Unverdauliches gespeist,  38
Das Mittel sich, vor dem der Schmerz verschwindet.
40 Dem, was ich sag', erschließe deinen Geist,
Denn Hören giebt nicht Weisheit, nein, Behalten;
Behalt' es drum, damit du weise seist.
43 In diesem Opfer sind zwei Ding' enthalten;
Das erste: des Gelübdes Gegenstand  -
Das zweite: der Vertrag, es treu zu halten.
46 Der letztere hat ewigen Bestand,
Bis er erfüllt ist, und wie er zu achten,
Dies macht' ich oben dir genau bekannt.
49 Drum mußten die Hebräer Opfer schlachten,  49
Obwohl für das Gelobte dann und wann
Sie, wie du wissen mußt, ein Andres brachten.
52 Der Gegenstand kann also sein, daß man
Auch ohne Reu' und Vorwurf zu empfinden,
Mit einem andern ihn vertauschen kann.
55 Nur mag sich dessen Niemand unterwinden
Nach eigner Wahl, wenn ihn der ersten Last
Der gelb' und weiße Schlüssel nicht entbinden.  57
58 Und jeder Tausch' der Bürd' ist Gott verhaßt,
Wenn, die wir nehmen, die wir von uns legen,
Nicht so, wie Sechs die Vier, voll in sich faßt.
61 Drum, ziehet das, was man gelobt, beim Wägen
Jedwede Waag' herab durch sein Gewicht,
So giebt's auch nirgendwo Ersatz dagegen.  58-63
64 Scherzt, Sterbliche, mit dem Gelübde nicht!
Seid treu, doch seht euch vor: den schwer beklagen  65
Wird's Jeder, der, wie Jephta, blind verspricht.
67 Ihm ziemt es besser: Ich that schlimm! zu sagen,
Als, haltend, schlimmer thun  -  und gleiche Scham
Sah man davon den Griechenfeldherrn tragen;  69
70 Drob Iphigenia weint' in bitterm Gram,
Und um sich weinen Weis' und Thoren machte,
Ja, Jeden, der von solchem Dienst vernahm.
73 Sei nicht leichtgläubig, Christenvolk, und trachte,  73 ff.
Nicht wie der Flaum im Windeshauch zu sein;
Das dich nicht jedes Wasser wäscht, beachte!
76 Das Alt' und Neue Testament ist dein,
Der Kirche Hirt ist Führer ihren Söhnen,
Und dieses gnügt zu eurem Heil allein.
79 Und heißt die schlechte Gier euch Anderm fröhnen,
Nicht Schafe seid ihr, eurer unbewußt,
Drum laßt vom Nachbar Juden euch nicht höhnen.
82 Thut nicht dem Lamm gleich, das der Mutter Brust
Aus Einfalt läßt, und, dumm und geil, vergebens
Nur mit sich selber kämpft nach seiner Lust."
85 Beatrix sprach's und wandte, regen Strebens
Ganz Sehnen, ihren Blick zum hellern Licht,
Empor zur schönen Welt des höhern Lebens.
88 Ihr Schweigen, ihr verwandelt Angesicht
Geboten dem begier'gen Geiste Schweigen,
Und ließen mich zu neuen Fragen nicht.
91 Und schnell, wie sich beschwingte Pfeile zeigen,
Ins Ziel einbohrend, eh' die Sehne ruht,
So eilten wir, zum zweiten Reich zu steigen.  93 ff.
94 Die Herrin sah ich so in frohem Muth,
Da uns der Flug zum neuen Glanze brachte,
Daß heller ward des Sternes Licht und Glut.
97 Wenn der Planet nun sich verwandelnd lachte,
Wie ward wohl mir, mir, welchen wandelbar
Schon die Natur auf alle Weisen machte?
100 Gleichwie im Teich, der ruhig ist und klar,  100
Wenn das, wovon die Fischlein sich ernähren,
Von außen kommt, her eilt die muntre Schaar,
103 So sah ich hier zu uns sich Strahlen kehren,
Wohl tausende, von welchen Jeder sprach:
"Seht, der da kommt, wird unser Lieben mehren!"  105
106 Und wie sie uns sich nahten nach und nach,  
Da sah ich süßer Wonne voll die Seelen
Im Glanz, der hell hervor aus jeder brach.
109 Bedenke, Leser, wollt' ich dir verhehlen,
Was ich noch sah, und schweigend von dir gehn,
Wie würde dich der Durst nach Wissen quälen?
112 Du wirst daraus wohl durch dich selbst verstehn,
Wie ich ihr Loos mich sehnte zu erfahren,
Sobald mein Aug' in ihren Glanz gesehn.
115 "Begnadigter, dem hier sich offenbaren  
Des ewigen Triumphes Thron', eh' dort  115-116
Du noch verlassen hast der Krieger Schaaren,
118 Wir sind entglüht vom Licht, das fort und fort
Den Himmel füllt  -  drum, wünschest du Erklärung,
So sättige nach Wunsch dich unser Wort."
121 Ein frommer Geist verhieß mir so Gewährung,
Beatrix drauf: "Sprich, sprich, und glaub' ihm fest,  122
So fest, als wär' es göttliche Belehrung."
124 ""Ich sehe, würd'ger Geist, du hast dein Nest
Im eignen Licht, das, wie du lächelst, immer  
Mit hellerm Glanz dein Auge strahlen läßt.
127 Doch wer bist du? was ward der schwache Flimmer
Der niedern Sphäre dir zum Sitz gewährt,
Die uns umschleiert wird durch andern Schimmer?""  129
130 So sprach ich, jenem Lichte zugekehrt,
Das erst gesprochen hatt', und sah's in Wogen
Von Strahlen drum, weit mehr als erst verklärt.
133 Denn gleichwie Sol, von dichtem Dunst umzogen,
  In zu gewalt'gen Glanz sich selber hüllt,
  Wenn Glut der Nebel Schleier weggesogen;
136 So barg sich jetzt, von größrer Lust erfüllt,
  Die heilige Gestalt im Strahlen-Ringe,
  Und sie entgegnete mir, so verhüllt,
139 Das, was ich bald im nächsten Sange singe.

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Sechster Gesang

Erläuterungen:

1  Das vollkommene Schauen erzeugt die Liebe, beides die Seligkeit, die sich steigert und in höherm Glanze zeigt, je vollkommener das Schauen wird. Und durch jeden Fortschritt im Schauen wird der Anlaß zum weitern Fortschreiten gegeben.

10  Nur das wahre ewige Licht erzeugt Liebe. Die Liebe zu irdischen Dingen entsteht nur dadurch, daß dieselben, auch ohne daß wir's ahnen, von einem Strahl des ewigen Lichtes beleuchtet werden  -  etwas Göttliches in sich haben.

24  Alle vernünftigen Geschöpfe sind begabt mit Willensfreiheit, aber auch nur die vernünftigen.

25  Wer Gott ein Gelübde ablegt, kann nicht mehr nach freiem Willen handeln, sondern muß, auch wider Willen, dem Gelübde Genüge leisten. Daher der hohe Werth des Gelübdes, durch welches man die größte der göttlichen Gaben, die Willensfreiheit, zum Opfer bringt.

32  Wenn du auch das, was du geopfert (im Gelübde dargeboten) hast, zu einer andern, als der gelobten Bestimmung wohl verwendest, so begehst du doch Sünde, weil das Gelobte nicht mehr dein war.

38  Wenn auch das, was du vernommen, schwer einzusehen ist, so wird dich doch weitere Belehrung aufklären.

49  Nach dem Kap. 12 und 27 im 3ten Buch Moses ist den Juden erlaubt, gewisse vorgeschriebene Opfer und Leistungen durch andere zu ersetzen.

57 Der gelbe und weiße Schlüssel; s. Fegefeuer Ges. 9 V. 118. Nicht eigenmächtig, sondern nur mit Erlaubniß der Kirche, soll man einen gelobten Gegenstand durch einen andern ersetzen.

58 - 63  Wenn der gelobte Gegenstand von solchem Werthe ist, daß er durch nichts Anderes ersetzt werden kann, so ist ein solcher Ersatz auch gänzlich unmöglich. Denn das, was wir zum Ersatz bieten, muß das Gelobte seinem Werthe nach ganz in sich fassen.

65  Jephta gelobte dem Herrn, wenn die Kinder Ammon, gegen die er zu Felde gezogen, in seine Hände gegeben würden, das Erste, was zu seinem Hause herauskomme und ihm begegne, wenn er in Frieden heimziehe. Gott verlieh ihm den Sieg, und Jephta opferte, dem Gelübde gemäß, seine Tochter, die ihm bei seiner Rückkehr entgegenkam. (Buch der Richter Kap. 11 B. 30 ff.)

69  Diana, auf den Agamemnon zürnend, der einen ihr geweihten Hirsch getödtet, forderte durch den Mund ihres Priesters die Tochter Agamemnons, Iphigenia, zum Versöhnungsopfer. Der Vater verstand sich dazu, und schon war der Altar errichtet und der Opferstahl gezückt, als Diana Iphigenien in einer Wolke nach Tauris entrückte.

73 ff.  Der Dichter hat, durch Beatricens Mund, V. 64 vor übereilten Gelübden gewarnt und fährt hier in seiner Warnung fort. Diese Warnung scheint besonders gegen die damaligen Priester gerichtet zu sein, welche die Leichtgläubigen zu thörichten, ja wohl zu verbrecherischen Gelübden verleiteten. Er weis't daher auf die Bibel hin, obwohl die Priester solche den Laien vorenthielten, und kann wohl V. 77 unter dem Hirten der Kirche nicht den von ihm vielfältig verdammten damaligen Papst, sondern nur Christum selbst verstehen. Daß er hauptsächlich vor den Verführungen der Priester warnt, ergiebt sich noch deutlicher aus V. 81. Die Juden, auf welche die Priester wenig Einfluß haben, weil ihre Gesetze ihnen zur Richtschnur dienen, haben Ursache, die Christen, unter welchen sie wohnen, zu verlachen, wenn diese dem Pfaffen mehr glauben, als dem Worte Gottes. Daß er die Gewalt, von einem Gelübde zu entbinden, vorher lediglich der Kirche zugeschrieben, widerspricht dieser Ansicht nicht. Denn diese Gewalt war der Kirche nach dem katholischen Lehrbegriff verliehen, nicht aber die, zu vernunftwidrigen Gelübden zu verführen. Auch hier weis der Dichter seine Ehrfurcht vor der Kirche mit seinem Abscheu vor der Verdorbenheit der Priester in Einklang zu bringen.

93 ff. Das zweite Reich, der Planet Merkur. Der Stern glänzt heller im Glanz Beatricens, welcher von Kreise zu Kreise sich erhöht, je mehr sie der Gottheit sich nähert.

100  Man ist es am Dichter schon gewohnt, daß er gemeine Gegenstände zu ungemeinen Gleichnissen zu benutzen weiß. Das herbeieilen der Fische, wenn Nahrung für sie in einen klaren Teich geworfen wird, versinnlicht vollkommen das Herbeieilen der seligen Seelen, da ein neuer Gegenstand erscheint, der ihrer Liebe neue Nahrung giebt.

105   Diese Stelle erläutert sich durch die Verse 64 -73 im fünfzehnten Gesange des Fegefeurs. Daß hier Dante, wie neuerlich vermuthet worden, sich selbst das Paradies, und zwar in diesem Sterne vorausverkündigt habe, weil er im 13ten Gesange des Fegefeuers sich des Stolzes bezüchtigt, dürfte wohl nicht anzunehmen sein. Denn nicht Jeder, der stolz ist, wird deshalb allein durch den Ehrgeiz zur Thätigkeit angetrieben. Auch ist nirgends angedeutet, daß die Seligen, die wir alle in der himmlischen Rose vereinigt finden werden, nur diejenigen lieben, die mit ihnen denselben Stern bewohnen, d.h. nach V. 27 Ges. 4 welchen der gleiche Grad des Schauens zu Theil ward; vielmehr deutet Alles auf die Allgemeinheit der Liebe.  -  In allen anderen Kreisen empfangen die Seligen den Dichter, wie hier, mit Freude und höherm Glanz, und ihre Liebe mehrt sich, da sie in ihm einen neuen Gegenstand findet.

Eine bestimmtere Prophezeiung von Dante's künftiger Seligkeit findet sich Ges. 15 V. 31. Vielleicht kann man auch eine solche Ges. 10 V. 87 finden.

115-116  Hier, im Himmel.  -  Dort, auf Erden.

122  Vergl. Ges. 3 V. 31 und die Anmerkung.

129  Der kleine Planet Merkur erscheint den Erdenbewohnern, weil er der Sonne so nahe ist, nur in der Dämmerung, und daher in sehr schwachem Lichte, weil das stärkere Licht der Sonne das seinige verschleiert.