Uebersicht 

Die Hölle.

Dreiundzwanzigster Gesang.

1 Wir gingen einsam, schweigend, unbegleitet,
  Ich hinterdrein, der Meister mir voraus,
  Wie auf dem Weg ein Franziskaner schreitet. 3
4 Mir mußte wohl der Teufel wilder Strauß
  Aesopens Fabel ins Gedächtniß bringen,
  Worin er spricht vom Frosch und von der Maus6
7 Denn wer Beginn und Schluß von beiden Dingen
  Mit reiflicher Erwägung wohl verglich,
  Dem konnte Jetzt und Itzt nich gleicher klingen.
10 Und wie aus einem der Gedanken sich
  Der zweit' entspinnt, so mußt' ich weiter denken,
  Und doppelt faßte Furcht und Schrecken mich.
13 Ich dachte so: Die sind in ihren Ränken
  Durch uns gestört, beschädigt und geneckt,
  Und müssen drob sich ärgern und sich kränken.
16 Wenn dies zur Bosheit noch den Zorn erweckt,
  So werden sie uns nach im Fluge brausen,
  Wie wild ein Hund sich nach dem Hasen streckt.
19 Schon fühlt' ich mir das Haar gesträubt vor Grausen,
  Und rückwärts lauschend rief ich: ""Meister, flieh! 20
  Verbirg uns wo in diesen Felsenklausen.
22 Die Grimmetatzen kommen schon. O sieh!
  Sie kommen schon mit einem ganzen Heere!
  So, wie ich sie mir denke, hör' ich sie.""
25 Und er zu mir: "Wenn ich ein Spiegel wäre,
  Kaum faßt' ich doch dein äußres Bild so klar,
  Als ich dein inneres mir leicht erkläre.
28 Jetzt aber nimmst auch du mein Innres wahr,
  Und kommst mir selber schon mit dem entgegen,
  Was für uns Beid' in mir beschlossen war.
31 Und ist der Abhang rechts nur so gelegen,
  Daß man zum nächsten Schlund hinunter kann,
  So sollen sie umsonst die Flügel regen."
34 Kaum sprach er's, als die Teufelsjagd begann,
  Und mit gespreizter Schwing', um uns zu fangen,
  Kam, nicht gar fern, der wilde Zug heran.
37 Mein Führer eilte nun, mich zu umfangen,
  Der Mutter gleich, die aufwacht beim Getos,
  Und nahe sieht die Flammen aufgegangen,
40 Ihr Kind erfaßt, und, nur um dessen Loos
  Bekümmert, nicht um ihr's, enteilt ins Weite
  Entkleidet noch und bis aufs Hemde bloß.
43 Daß er herab am harten Felsen gleite,  43
  Streckt' er sich rücklings an den steilen Hang,
  Der jenen Sack verstopft an einer Seite.
46 Nie hat ein Mühlbach sich mit schnellerm Drang
  Aufs Mühlenrad durch seine Rinn' ergossen,
  Als jetzt mein Meister, vor Verfolgung bang,
49 Von jenem Felsenhang herabgeschossen,
  Mich mit sich nehmend, an die Brust gepreßt,
  Und fest umstrickt, als Kind, nicht als Genossen.
52 Kaum stand sein Fuß am Rand der Tiefe fest,
  So hörten wir sie über jenem Grunde,
  Doch er blieb ohne Furcht; denn nimmer läßt
55 Die ew'ge Vorsicht, die im fünften Runde
  Als Diener ihrer Macht sie eingesetzt,
  Sie wieder vor aus diesem schmalen Schlunde.
58 Getünchte Leute sahn wir unten jetzt  58
  Im Kreise ziehn mit langsam schweren Tritten,
  Matt und erschöpft, von Thränen ganz benetzt.
61 Verhüllt die Augen von Kapuzen, schritten
  Sie träg dahin in Kutten, gleich der Tracht
  Der Mönch' in Köln am Rheine zugeschnitten;  63
64 Gold außen, blendend durch des Glanzes Pracht.
  Von innen Blei, schwer, daß von Stroh erscheinen,
  Die Friedrich für den Hochverrath erdacht.  66
67 O Mantel, lastend unter ew'gen Peinen! 
  Wir gingen, folgend, zu der Rechten mit,
  Aufmerksam auf ihr jammervolles Weinen.
70 Doch so erschwert war durch die Last ihr Tritt,
  Daß neben uns, so oft wir vorwärts traten,
  Ein neuer Sünder durch das Dunkel schritt.
73 Ich sprach: ""O sieh dich um! ist wohl durch Thaten
  Und Namen mir von diesen wer bekannt?
  Und sage mir's, sobald wir Einem nahten!""
76 Und Einer, der Toskanisch wohl verstand,
  Rief hinter uns: "O bleibt ein wenig stehen,
  Ihr, die ihr rennt durch dieses dunkle Land.
79 Was du verlangst, kann wohl durch mich geschehen!"
  Da wandte sich mein Herr und sprach: "Halt' an,
  Und suche langsam, wie er selbst, zu gehen."
82 Ich stand, und sah nun Zwei, die, um zu nahn,
  Sich sehr anstrengten und sich weidlich plagten,
  Gehemmt von schwerer Last und enger Bahn;
85 Dann, angelangt, mit keinem Worte fragten,
  Vielmehr nach mir den scheelen Blick gedreht,
  Sich unter sich besprechend, dieses sagten:
88 "Der lebt, wie ihr am Zug des Odems seht,
  Und welcher Freibrief dient zu ihrem Schilde,
  Daß der und jener ohne Bleirock geht?"
91 Zu mir dann: "Tusker, der du zu der Gilde
  Der Heuchler kommst, zu ihrem trüben Leid,
  Wer bist du? sag' es nun mit Huld und Milde."
94 Und ich: ""Mich hat die Stadt voll Herrlichkeit
  Am Arnostrand geboren und erzogen,
Und diesen Körper trug ich jederzeit.
97 Doch wer seid ihr, von deren Wang' in Wogen
  Ein Thränenstrom so schmerzlich niederrinnt?
  Und was hat euch solch' Uebel zugezogen?""
100 Und Einer sprach: "Die gelben Kutten sind
Von Blei, so schwer, daß ihr Gewicht der Wage, 101-102
Die's trägt, ein heulend Knarren abgewinnt.  103
103 Lustbrüder waren wir von gleichem Schlage,
  Ich Catalano, Loderingo Er,
Von deiner Stadt erwählt an einem Tage,
106 So wie man einen Einzigen vorher
Als Friedenswahrer wählt' - und wer wir waren,
Zeigt beim Gardingo noch sich rings umher."
109 Und ich begann: ""Das Leid, das ihr erfahren - ""
Doch schwieg und mußt' an dreien Pfählen dort
Gekreuzigt Einen aus dem Grund gewahren.
112 Als er mich sah, verrenkt' er sich sofort,
Und haucht' in seinen Bart mit lautem Stöhnen,
Und Bruder Catalan sprach dieses Wort:
115 "Der Angepfählte, dessen Klagen tönen,  115
Gab einst den Pharisäern diesen Rath:
Mög' Eines Tod für's Volk den Zorn versöhnen!
118 Nun liegt er nackt und quer auf unserm Pfad,
Und fühlen muß er, wenn wir drüben wallen,
Wie viel Gewicht von uns ein Jeder hat.
121 So wird sein Schwäher auch gestraft, mit Allen
Vom Pharisër-Rath, durch den so viel
Der schlimmen Saat für Juda's Volk gefallen."
124 Und, wie ich sah, erstaunte selbst Virgil,
Daß er gestreckt am Kreuz an diesem Orte
So schmählich lag im ewigen Exil.
127 Zum Bruder richtet' er dann diese Worte:
"Sagt, wenn ihr dürft, ist rechts die Straße frei,
Und ist wohl eine Schlucht dort, die als Pforte
130 Zu brauchen ist zum Ausgang für uns Zwei,
Ohn' einen von den Teufeln erst zu bannen,
Daß er zum Weitergehn uns Führer sei?"
133 Und Jener drauf: "Ihr geht nicht weit von dannen,
So seht ihr einen Stein vom großen Rund
Als Steg sich über alle Thäler spannen.
136 Er ist nur eingestürzt ob diesem Schlund,  136
Allein ihr könnt die Trümmer leicht ersteigen,  137
Denn, schief sich lagernd, stehn sie aus dem Grund."
139 Ich sah den Herrn das Haupt ein wenig neigen,
Drauf sprach er: "Mußte doch der Teufel hier
Sich wiederum in schlechtem Rathschlag zeigen."
142 Und Jener: "In Bologna merkt' ich's mir.
Der Teufel sei ein Lügner stets, ein dreister,
Ja, aller Lügen Vater für und für."  144ff.
145 Nun ging davon mit großem Schritt mein Meister
Und schien ein wenig zornig und erboßt,
Und ich verließ die bleibeschwerten Geister,
148 Und folgte der verehrten Spur getrost.

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Vierundzwanzigster Gesang

Erläuterungen:

3 Die Franziskaner pflegen, aus wirklicher oder erheuchelter Demuth, mit gesenktem Haupte zu gehen, und so gingen die Dichter gedanken- und sorgenvoll über den Vorfall, von welchem sie Zeugen gewesen waren.

6 Der Frosch erbot sich, die Maus auf seinem Rücken über einen Graben zu bringen. Im Stillen hatte er die Absicht, sie unterwegs zu ersäufen. Aber ein Raubvogel stieß herab und verschlang sie beide. Frosch und Maus sind die beiden Teufel, mit der redlichen Gesinnung, welche dergleichen Gefährten gegen einander zu hegen pflegen. Der Raubvogel ist der Pechpfuhl, der sie beide verschlingt.

20 Dante fürchtete, daß die Rache der Teufel, da der Besuch ihnen so großes Unglück gebracht hatte, auf sie fallen möge. Auch Virgil ist damit einverstanden, und meint, es sei das Beste, sich aus dem Staube zu machen. Allerdings ist in der Nähe und innerhalb des Wirkungkreises solcher Beamten, deren Schelmenstreiche man durchschaut hat, nicht gut zu verkehren, so lange sie noch im Besitze ihrer Gewalt sind. Wir müssen daher den Virgil loben, daß er seinen Schützling eiligst an einen Ort bringt, an welchem die compromittirten Teufel keine Gewalt mehr haben.

43 Man erinnere sich, daß die Dichter, weil hier keine Brücke über die sechste Abtheilung führt, auf dem Damme hingingen, um nach der Versicherung des Teufels weiterhin die Brücke zu finden. An dem Abhang dieses Dammes, welcher die fünfte und sechste Abtheilung trennt, und in die Tiefe der letztern, gleitet also Virgil, seinen Schützling mit den Armen umschließend, hinab. Hier sind sie sicher, weil die Teufel außerhalb des ihnen angewiesenen Wirkungskreises keine Handlung der Amtsgewalt ausüben, ja, sich nicht zeigen dürfen.

58 Die Erscheinung der Heuchler wird uns nicht lange über das Verhältniß ihrer Strafe zu ihrem Zustande im Leben in Zweifel lassen. Die bemalten Leute, ihre Mäntel, die von außen wie Gold glänzen und blenden, aber von innen Blei sind und den Träger selbst unerträglich drücken, ihm jeden freien, raschen Schritt verwehren - die Kapuzen, die ihr wahres Angesicht verhüllen, alles dies wird sich von selbst erklären.

63 Nach einer hierbei angeführten Anekdote soll der Papst die Kapuziner in Köln, weil ihr Abt eine besondere prunkende Kleidung für sie verlangt hatte, verdammt haben, schwarze Kutten von schlechtem Schnitt zu tragen. Allein dies paßt nicht hierher, da die Heuchler durch ihren Aufzug eben von außen ansprechend, ja glänzend erscheinen sollen. Wahrscheinlich waren die Kölner Kapuzen ganz vorzüglich geeignet, die Gesichter zu verbergen, oder die Kölner Mönche standen vorzugsweise im Rufe der Heuchelei.

66 Kaiser Friedrich der Zweite soll diejenigen, die des Verbrechens der beleidigten Majestät schuldig waren, mit Mänteln von Blei haben bekleiden und sie in einem großen Gefäße über's Feuer setzen lassen, damit das geschmolzene Blei ihren Körper gänzlich verzehre.

101-102 Die Wage, die dies Gewicht trägt, sind die Sünder selbst, die unter der Last stöhnen, wie wohl eine Wage knarrt, wenn eine große Last auf ihr gewogen wird.

103 Von Urban dem Vierten war ein Ritterorden unter dem Namen des Ordens der heiligen Maria gestiftet worden, dessen Mitglieder gegen die Ungläubigen kämpfen sollten. Aber statt dies zu thun, blieben sie zu Hause und lebten in Lust und Freude, daher sie mit dem Spitznamen Lustbrüder (frati godenti) belegt wurden. Die beiden, von welchen hier die Rede ist, wurden von den Florentinern berufen, um gemeinschaftlich das Amt des Podesta zu verwalten, das sonst nur in der Hand eines Mannes war. Ungeachtet der von ihnen geheuchelten Unparteilichkeit verkauften sie sich aber den Guelfen und halfen ihnen bei Vertreibung der Ghibellinen. Die Häuser der Uberti, die am Gardingo, einer Straße von Florenz, standen, wurden bei dieser Gelegenheit zerstört.

115 Die hohen Priester und Pharisäer fürchteten, daß, wenn man Christum nicht hindre, seine Lehre zu verbreiten, das Volk wegen seiner Wunder an ihn glauben, und daß ihnen dann durch die Römer das Land werde entrissen werden. Um nun sich selbst in seiner Würde zu sichern, gab Kaiphas, der eben hoher Priester war, den Rath: Es ist uns besser, Ein Mensch sterbe für das Volk, denn daß das ganze Volk verderbe. Vergl. Ev. Joh. Kap. 11. V. 50. Als der verruchteste Heuchler liegt er nun selbst gekreuzigt am Boden, und muß, indem die andern mit ihren schweren Kutten über ihn wegschreiten, fühlen, wie schwer die Last ist. Von seinem Schwäher Hannas s. Ev. Joh. Kap. 18 V. 13.

136 Das die Felsenbrücken, welche den Weg über alle Thäler dieses Kreises bilden, oben über der sehcsten Abtheilung eingestürzt sind, ist gewiß nicht zufällig, wenn schon der Dichter sich darüber nicht äußert, sondern es dem Scharfsinne seiner Leser überläßt, seine Absichten zu errathen, so gut sie eben können. Hat der Dichter vielleicht sagen wollen: der heiligen Lehre Christi ist nichts so feindlich als Heuchelei, und deshalb stürzten bei Christi Tode diese Felsen auf die Heuchler herab? - Oder dürfen wir uns denken: Der Weg von der Heuchelei zu allen anderen Lastern und Verbrechen und von allen Lastern zur Heuchelei ist ein so unfehlbarer, daß es nicht erst der Brücke bedarf, um ihn noch mehr zu erleichtern? - Oder: Wer die Heuchler von oben betrachtet, wird gewiß von ihnen betrogen. Die Brücke ist daher eingestürzt, damit man zu ihnen hinabsteigen und sie näher betrachten müsse, um sicher zu erkennen, daß ihre glänzenden Gewänder von Blei sind.

137 Die Trümmer der eingestürzten Brücke bilden einen Abhang, auf welchem zwar nicht die Heuchler selbst mit ihren schweren Bleikutten (Ges. 24 V. 31), wohl aber Leute, die von der Vernunft geleitet und unterstützt werden, den Weg aus den Tiefen der Heuchelei wieder herausfinden.

144 ff. Vergl. Anmerk. zu Ges. 22 V. 106. Ob übrigens Bruder Catalan die V. 142-144 vorgetragene Wahrheit auf der Universität von Bologna gehört habe, oder ob die Moralität der Bologneser, die Ges. 18 V. 58 u. 59 eben nicht vortheilhaft geschildert ist, damit näher habe bezeichnet werden sollen, muß dahin gestellt bleiben.