Uebersicht   

Die Hölle.

Zwanzigster Gesang.

1 Die neue Qual, zu der ich jetzt gewandelt,  1
  Sie giebt dem zwanzigsten Gesange Stoff
  Des ersten Lieds, das von Verdammten handelt.
4 Ich stand auf jenem Felsen rauh und schroff,
  Und spähte scharf hinab zum offnen Schlunde,
  Der ganz von angsterpreßten Zähren troff.
7 Viel Leute gingen langsam in der Runde,
  So, wie ein Wallfahrtszug die Schritte lenkt,
  Stillschweigend, weinend in dem tiefen Grunde.
10 Als tiefer ich auf sie den Blick gesenkt,   10
 

Sah ich - ein Wunder scheint es und erdichtet -

  Vom Kinn sie bis zum Achselbein verrenkt,
13 Das Angesicht zum Rücken hingerichtet;
  Drum mußten sie gezwungen rückwärts gehn,
  Und ihnen war das Vorwärts-Schau'n vernichtet.
16 So soll ein Schlagfluß wohl das Haupt verdrehn,
  Wie man erzählt in wunderlichen Sagen,
  Doch glaub' ich's nicht, da ich es nie gesehn.
19 Läßt Gott dein Lesen, Leser, Früchte tragen,
  So frage selber dich, wie mir geschah,
  Ob ich nicht weinen mußt' und ganz verzagen,
22 Als ich des Menschen Ebenbild so nah
  Verrenkt, verdreht, und von der Augen Thränen
  Genetzt den Spalt der Hinterbacken sah?  19 - 24
25 Wahr ist's, auf eine von den Felsenlehnen
  Stand ist gestützt, und weinte ganz verzagt;
  Da sprach mein Herr: "Willst du, gleich Thoren, wähnen?
28 Fromm ist nur, wer das Mitleid hier versagt.  28
  Wer ist verruchter wohl, als wer zu schmähen
  Durch sein Bedauern Gottes Urtheil wagt?
31 Empor das Haupt, empor! Den wirst du sehen,  31
  Den einst vor Thebens Blick der Grund verschlang;
  Drob Alle schrie'n: "Wohin, was ist geschehen?
34 Amphiaraus, wird der Kampf zu lang? -
  Doch stürzt er fort und fort im tiefen Schachte,
  Bis Minos ihn, gleich anderm Volk, bezwang.
37 Schau, wie er ihm die Brust zum Rücken machte!
  Schau, wie er rückwärts schreitet, rückwärts sieht,
  Weil er zu weit voraus zu sehen dachte.
40 Tiresias sieh, der uns entgegenzieht.  40
  Er, erst ein Mann, ward durch des Zaubers Gabe
  Verwandelt in ein Weib an jedem Glied,
43 Dann aber schlug er mit dem Zauberstabe
  Zuvor auf zwei verwundne Schlangen ein,
  Damit er wieder Mannsgestaltung habe.
46 Den Rücken ihm am Bauch, kommt hinterdrein,
  Nah angedrängt an ihn, des Aruns Schatte,
  Der lebend einst in Luni's Felsenreihn   47
49 Als Haus die weiße Marmorhöhle hatte,
  Wohl ausgesucht, daß sie zum Meeresstrand
  Und zu den Sternen freien Blick gestatte. -  
52 Die mit den wilden Haaren ohne Band
  Die Brüste deckt, die sich nach hinten kehren,
  Was sonst behaart ist, hinterwärts gewandt,
55 War Manto, die in Ländern und auf Meeren  55
  Umirrte bis zum Ort, der mich gebar.
  Von dieser will ich näher dich belehren.
58 Nachdem der Welt entrückt ihr Vater war,
  Und Bacchus Stadt verfiel in Sclavenbande,
  Durchstreifte sie die Welt so manches Jahr.
61 Ein See liegt an des schönen Welschlands Rande,
  Am Fuß des Alpgebirgs, das Deutschland schließt,
  Benaco heißend, beim Tyroler Lande.  63
64 Zwischen Camonica und Gard' ergießt,
  Und Apennin, sich Flut in tausend Bächen,
  Die in besagtem See zusammenfließt.
67 Inmitten aber liegen ebne Flächen,
  Und drei verschiedene Hirten könnten dort  68
  Auf einem Gränzpunkt ihren Segen sprechen.
70 Hier liegt Peschiera dann, ein starker Ort,
  Um Bergamo von Brescia abzuschneiden,
  Und rings geht flacher dann die Gegend fort,
73 Hier muß sich von dem See das Wasser scheiden,
  Das nicht mehr Raum in seinem Schooß gewinnt,
  Und strömt als Fluß herab durch grüne Weiden.
76 Das Wasser, das hier seinen Lauf beginnt,
  Heißt Mincio nun, und seine Wellen gleiten
  Bis nach Governo, wo's im Po verinnt.
79 Nicht weit gelaufen, trifft es ebne Weiten,
  Wo es sich ausdehnt und zum Sumpfe staut,
  Der bösen Dunst verhaucht zu Sommerszeiten.
82 Als dort das rauhe Weib ein Land erschaut,
  Das jenes Sumpfes Wogen rings umgaben,
  Entblößt von Leuten und unangebaut,
85 Da blieb, um nichts von Menschen nah zu haben,
  Sie mit den Dienern da, trieb Zauberei,
  Und lebt' und ward in diesem Land begraben.
88 Bald kamen Menschen, rings zerstreut, herbei.
  Die, weil sie sich auf diesen Ort verließen,
  Und sahn, daß durch den Moor kein Zugang sei,
91 Sich auf dem Grabe Manto's niederließen,
  Und dann nach ihr, die erst den Ort erwählt,
  Die Stadt, ohn' andres Zeichen, Mantua hießen.
94 Sie hat vordem des Volkes mehr gezählt,
  Eh' Pinamont, den Thoren zu betrügen,  95
Dem Cassalodi seinen Trug verhelt.
97 Drum merke wohl, und sollt' es je sich fügen,
  Das Mantua's Ursprung man nicht so erklärt,
  So laß der Wahrheit nichts entziehn durch Lügen."
100 Und ich: ""Mein Meister, was dein Wort mich lehrt,
Ist mir gewiß und dient zu meinem Frommen,
All' Andres ist nur todte Kohl' an Werth.
103 Doch sprich, von diesen, die uns näher kommen,
  Ist irgend wer bemerkenswerther Art?
Denn dies nur hat den Geist mir eingenommen.""
106 Und Er: "Des Augurs Trug hat der, deß Bart   106
Die braunen Schultern deckt, zur Zeit getrieben,
Als Griechenland so leer an Männern ward,
109 Das Knaben kaum noch für die Wiegen blieben.
In Aulis sagt' er da mit Kalchas wahr,
Zeit wär's, daß sie das erste Tau zerhieben.
112 Kund thut mein tragisch Lied dir, wer er war.  112
Du wirst dich des Eurypylus entsinnen,
Denn mein Gedicht ja kennst du ganz und gar.
115 Sieh Michael Scotto auch, den magern, dünnen,
Der jeden Trug des Zaubers klug gelenkt,
Und solches Spiel verstanden zu gewinnen.
118 Bonatti sieh - Asdent, den's jetzo kränkt,
Allein zu spät, daß er in eitlem Trachten
Doch nicht auf seinen Leisten sich beschränkt.  115-120
121 Sieh Betteln, die statt Spill' und Rad zu achten
Und Weberschiff, wie's einem Weib gebührt,
Mit Kraut und Bildern Hexereien machten.
124 Jetzt komm! Indeß ich dich hierher geführt,  124
Hat an der Gränze beider Hemisphären
Der Mond im Westen schon die Flut berührt.
127 Du sahst ihn gestern sich zum Rund verklären,
Und sahst ihn dir im dichtverwachsnen Wald   128
Verschiedne Mal willkommnes Licht gewähren."
130 Er sprach's, doch gingen wir ohn' Aufenthalt.

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Einundzwanzigster Gesang

Erläuterungen:

1  Die Dichter sehen von der Felsenbrücke hinab in die vierte Abtheilung des achten Kreises, in welchem Zauberer und Wahrsager bestraft werden. Die Sünder gehen in diesem Kreise mit zum Rücken gekehrten Gesichtern. Wie sie daher auch gehen mögen, sie gehen rückwärts und das Vorwärtsschauen ist ihnen entrissen und vernichtet (tolto V. 15). Wir dürfen in dieser Strafe die weise Lehre erkennen: Wenn du die Zukunft erkennen willst, so schaue in die Vergangenheit. Erkenne in ihr, was den Staaten die Geschichte, den einzelnen Menschen für ihren Bedarf die Erfahrung lehrt. In dem Wege, auf welchem die Vorsehung die Völker und die einzelnen Menschen führt, wirst du das ewige Gesetz und die Folgen seiner Beobachtung und seiner Verletzung erkennen. Nur auf diesem Wege erlaubt Gott dem Menschen, so weit überhaupt sein kurzer Blick reicht, das Künftige mit Wahrscheinlichkeit zu erkennen. Das Vordringen in die Zukunft auf jedem andern Wege ist naturwidriger Frevel. Ihr, die ihr euch dessen schuldig macht, sollt statt vor- immer rückwärts gehen und nicht sehen, was in der natürlichen Richtung vor euren Füßen liegt.

10 Der Dichter hat erst, geradeaus blickend, den Strafort von der Brücke aus überschaut und nur einen Zug von Büßern gesehen. Jetzt senkt er die erst vorwärts gerichteten Augen, d. h. er blickt vom Brückenende mehr gerade unter sich, und nun erkennt er die wunderliche Verrenkung.

19 - 24  Das hier folgende Bild ist von Vielen gemein gefunden worden, als wenn der plastische Künstler nicht auch die Theile der Menschengestalt darstellen müßte, welche man in den Salons der feinen Welt am Theetische nicht nennen darf! Wir finden das Bild ungemein, da es die Sache mit höchster Klarheit vor die Augen stellt, und uns zu ernster Betrachtung auffordert. Nur diejenigen Thränen sind nützlich, die wir mit der Erkenntniß begangener Fehler im Vorwärtsschreiten weinen. Nur ihrer dürfen wir uns an uns selbst und Andern erfreuen. Der Mensch aber, der, so lange er vorwärts schreiten konnte, seinen Irrthum oder seine Sünde nicht erkennt, ist, wenn er, auf ewig rückwärts gekehrt, weint, nur ein Gegenstand des Abscheues oder Bedauerns. - Daß von keinem Scherze des Dichters hier die Rede sein kann, versteht sich von selbst. Das endlich dieses Bild, so wie die V. 46 und 52 enthaltenen, uns die Scene höchst plastisch darstellt, wird nicht unbemerkt bleiben.

28 Im Original: qui vive la pietà quand' è ben morta - ein Wortspiel, das im Deutschen nicht wiederzugeben ist, da wir kein Wort haben, welches zugleich Mitleid und Frömmigkeit bedeutet. Die Lehre, welche die Vernunft hier giebt, ist unbestreitbar richtig. Aber der Dichter zeigt, daß es dem Herzen schwer wird, sie aufzufassen und zu befolgen. - Wir müssen erkennen, daß die innere oder äußere Strafe, welche dem Verbrechen folgt, Wirkung der ersten Liebe des Schöpfers ist (Ges. 3 V. 6). Aber wir werden nicht umhin können, Mitleid zu fühlen, wenn wir den Verbrecher, unser Ebenbild, der Strafe anheimgefallen sehen.

31 Amphiaraus, einer der sieben Anführer im Kriege gegen Theben, weigerte sich lange, an diesem Kriege Theil zu nehmen, weil er, in die Zukunft blickend, seinen Untergang dabei voraussah. Ihn verschlang während der Schlacht die Erde.

40 Tiresias, ein thebanischer Wahrsager, ward, indem er zwei Schlangen mit seinem Stabe schlug, in ein Weib, und auf dieselbe Weise sieben Jahre später wieder in einen Mann verwandelt.

47 Aruns, ein toskanischer Wahrsager, der in der Gegend von Carrara wohnte.

55 Manto, eine Tochter des Tiresias, ebenfalls eine Wahrsagerin, floh, nach dem Tode ihres Vaters, als Theben unter Kreons Herrschaft gekommen war, durch manche Länder nach Italien, und gründete dort Mantua.

63 Benaco, der heutige Garda-See.

68 Drei verschiedene Hirten, die Bischöfe von Trient, von Brescia und von Verona, deren Sprengel dort zusammenstoßen. Wer sich übrigens von der hier beschriebenen Gegend näher unterrichten will, möge eine Specialkarte in die Hand nehmen. Eine prosaische Erläuterung der Stelle dürfte schwerlich deutlicher werden, als die so sehr klare Beschreibung im Texte.

95 Pinamonte d' Buonacossi überredete den Grafen Albrecht Cassalodi, Herrn von Mantua, daß er, um das aufgebrachte Volk zu beruhigen, die mächtigsten und tapfersten seiner Anhänger aus der Stadt verbannen müsse. Als der Graf diesem Rathe gefolgt war, bemächtigte sich Pinamonte mit Hülfe des Volkes selbst der Herrschaft und tödtete und verbannte alle diejenigen, von welchen er Gefahr befürchtete.

106 Euryphulus, welcher, als die Griechen gen Troja zogen, ihnen die rechte Zeit zur Abfahrt kund that.

112 Mein tragisch Lied, im Original: l'alta mia tragedia - die Aeneis, in welcher B. 2 V. 114 von Eurypylus die Rede ist, so benannt, nach Dante's Theorie vom tragischen, komischen und elegischen Style. S. die Einleitung. [Vergil Aeneis B. 2 V 114 ff.: "Ratlos entsandten wir da Eurypylos, daß der erforsche/ Phoebus' Orakel; er brachte vom Tempel die traurige Antwort:/ 'Blut hat die Winde versöhnt und der Tod der geopferten Jungfrau,/Als ihr Danaer erst die ilischen Küsten erstrebtet;/Blut verschaff' euch die Heimkehr, und eine argivische Seele/Opfert dafür.' ..." (Thassilo von Scheffer's Übersetzung)]

115 - 120 Michael Scotto, ein spanischer oder schottischer Wahrsager - Bonatti, ein Astrolog, der seine Weisheit in eine Schrift niedergelegt hat - Asdente, ein mystischer Schuster aus Parma.

124 Der Mond, der gestern Abend voll war, geht eben an der Gränze der östlichen und westlichen Hemisphäre unter. Also kommt der Morgen des zweiten Tages der Reise.

128 Ehe Dante die Sonne der Wahrheit scheinen sah, war er im Walde der Irrthümer (Ges. 1). Wahrscheinlich deutet der Mond hier auf den schwachen Abglanz jener Sonne, den er, noch im Walde irrend, in sich spürte und der ihn vielleicht vor tieferer Verirrung bewahrte.