Uebersicht  

Die Hölle.

Funfzehnter Gesang.

1 Wir gehen nun auf hartem Rand zusammen,
  Und Dampf des Bachs, der drüben nebelt, schützt
  Das Wasser und die Dämme vor den Flammen,
4 So wie sein Land der Flandrer unterstützt,
  Bang vor der Springflut Ansturz, die vom Baue
  Des festen Damms rückprallend schäumt und sprützt;
7 Wie längs der Brenta Schloß und Dorf und Aue
  Die Paduaner sorglich wohl verwahrt,
  Bevor der Chiarentana Frost erlaue;  9
10 So war der Damm auch hier von gleicher Art,
  Nur daß in minder hohen, dicken Massen
  Vom Meister dieser Bau errichtet ward.
13 Schon weit zurück hatt' ich den Wald gelassen,  13
  So daß der Blick, nach ihm zurückgewandt,
  Nicht mehr vermögend war, ihn zu erfassen,
16 Da kam am Fuß des Damms ein Schwarm gerannt,
  Und wie am Neumond bei des Abends Grauen
  Nach Dem und Jenem man die Blicke spannt,
19 So sahn wir sie auf uns nach oben schauen;
  Und wie der alte Schneider nach dem Oehr,  20
  So spitzten sie nach uns die Augenbrauen.
22 Und wie sie alle gafften, faßte Wer
  Mich bei dem Saum, indem er mich erkannte,
  Und rief erstaunt: "Welch Wunder! Du? Woher?"
25 Als er nach mir den Arm ausstreckte, wandte
  Ich ihm den Blick aufs Angesicht, das schier
  Geröstet war; doch zeigte das verbrannte
28 Sogleich die wohlbekannten Züge mir;
  Ich neigte drum mein Antlitz zu dem seinen,
  Und rief, ""Ach Herr Brunetto, seid ihr hier?""  30
31 Und Er: "Mein Sohn, nicht mag dir's lästig scheinen,
  Hier zu verziehn, denn gern wohl spräch' ich dich.
  Laß die vorbeiziehn, die mit mir erscheinen."
34 ""Ich bitt' euch selbst darum,"" entgegnet' ich,
  ""Daher ich gern mit euch mich setzen werde,
  Wenn's dieser billigt, denn er leitet mich.""
37 Und Er: "Ach Sohn, wer weilt von dieser Heerde,   37
  Darf sich nicht wedeln hundert Jahr hernach,
  Und liegt, die Glut erduldend, auf der Erde.
40 Drum geh', ich folge deinem Tritte nach,
  Bis wir aufs Neu' zu meiner Rotte kommen,
  Die ewig läuft, beweinend ihre Schmach."
43 Gern wär' ich neben ihn hinabgeklommen,
  Doch wagt' ich's nicht und ging, das Haupt geneigt,
  Wie wer da geht von Ehrfurcht eingenommen.
46 "Du, welcher vor dem Tod herniedersteigt,"
  Begann er nun, "welch Schicksal führt dein Streben?
  Und wer ist der, so dir die Pfade zeigt?"
49 ""Dort oben,"" sprach ich, ""in dem heitern Leben
  War ich, eh reif mein Alter, ohne Rath
  Verirrt und rings von einem Thal umgeben,
52 Aus dem ich eben gestern Morgens trat.
  Schon kehrt' ich mich zurück, da kam mein Leiter
  Und führt mich wieder heim auf diesem Pfad.""
55 Drauf sprach Er: "Folgst du deinem Sterne weiter,  55
  Dann, wenn ich recht bemerkt im Leben, schafft
  Er dich zum Hafen, ehrenvoll und heiter.
58 Und hätte mich der Tod nicht weggerafft,
  Hätt' ich, da dir so hold die Sterne waren,
  Dich selbst zum Werk beseelt mit Muth und Kraft.
61 Doch jenem Volk von Schnöden, Undankbaren,
  Das niederstieg von Fiesole und fast  62
  Des Bruchsteins Härte noch scheint zu bewahren,
64 Ihm bist du, weil du wacker thust, verhaßt;
  Mit Recht, weil übel stets zu Dorngewinden
  Mit herber Frucht die süße Feige paßt.
67 Man heißt sie dort nach altem Ruf die Blinden,  67
  Voll Geiz, Neid, Hochmuth, faul an Schaal' und Kern -
  Laß rein dich stets von ihren Sitten finden!
70 So großen Ruhm bewahrt dir noch dein Stern,   70
  Daß beide Theile hungrig nach dir ringen,
  Doch dieses Kraut bleibt ihrem Schnabel fern,
73 Das Fiesolaner Vieh mag sich verschlingen,
  Sich gegenseits, doch nie berühr's ein Kraut,
  Kann noch sein Mist hervor ein solches bringen,
76 In dem man neu belebt den Samen schaut
  Von jenen Römern, welche dort geblieben,
  Als man dies Nest der Bosheit auferbaut."
79 ""War einst, was ich gewünscht, des Herrn Belieben,""
  Entgegnet' ich, ""gewiß, ihr wäret nicht
  Noch aus der menschlichen Natur vertrieben.
82 Das theure, gute Vater-Angesicht,
  Noch seh' ich's vor betrübtem Geiste schweben,
  Noch denk ich, wie ihr mich im heitern Licht
85 Gelehrt, wie Menschen ew'gen Ruhm erstreben,
  Und wie mir dies noch theuer ist und werth,
  Soll kund, so lang' ich bin, die Zunge geben.
88 Was ihr von meiner Laufbahn mich gelehrt,
  Bewahr' ich wohl. - Werd' ich die Herrin schauen,
  Nebst anderm Text wird mir auch dies erklärt.
91 Dem aber, will ich, sollt ihr fest vertrauen:
  Ist's nur mit dem Gewissen wohl bestellt,
  Dann macht kein Schicksal, wie's auch sei, mir Grauen .
94 Mir ist nicht neu, was eure Red' enthält,
  Doch mag der Bauer seine Hacke schwingen,
Und seinen Kreis das Glück, wie's ihm gefällt.""
97 Rechts kehrte sich Virgil, indem wir gingen,
  Nach mir zurück und sah mich an und sprach:
  "Gut hören, die's behalten und vollbringen."   99
100 Ich aber ließ drum nicht im Sprechen nach,
Und wünschte die berühmtesten zu kennen
Von den Genossen dieser Pein und Schmach.
103 Drauf Herr Brunett: "Gut ist es Ein'ge nennen,
  So wie von Andern Schweigen löblich scheint,
Auch müssen wir zu bald uns wieder trennen.
106 Gelehrte sind und Pfaffen hier vereint
Von großem Ruf, die einst besudelt waren
Mit jenem Fehl, den Jeder nun beweint.
109 Franz von Accorso geht in diesen Schaaren,  109
Auch Priscia, und war dir's nicht zu schlecht,  110
Vorhin so schnöden Aussatz zu gewahren,
112 So sahst du Jenen, den der Knechte Knecht   112
Zwang nach Vicenz vom Arno aufzubrechen,
Allwo der Tod sein toll Gelüst gerächt.
115 Gern sagt ich mehr - doch mit dir gehn und sprechen
Darf ich nicht länger, denn schon hebt sich dicht
Ein neuer Rauch auf jenen sand'gen Flächen.
118 Auch naht hier Volk, von dem mich das Gericht
Geschieden hat - mein Schatz sei dir empfohlen,  119
Ich leb' in ihm noch, mehr begehr' ich nicht."
121 Hier wandt' er sich die Andern einzuholen,
Wie nach dem Ziel mit grünem Tuch geziert
Der Veroneser läuft mit flücht'gen Sohlen,
124 Und schien, wie wer gewinnt, nicht wer verliert.   124

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Sechszehnter Gesang

Erläuterungen:

9  Die Chiarentana, derjenige Theil der Alpen, in welchem die Brenta entspringt; im Winter meist mit tiefem Schnee bedeckt, der im Frühlinge die plötzlichen und gewaltsamen Ueberschwemmungen veranlaßt, welchen die Flußgegenden des nördlichen Italiens fast jährlich ausgesetzt sind.

13 Der Wald, der Strafort derer, die gegen sich selbst Gewalt verübt.

20 Der Dichter verschmäht, wie wir hier und anderwärts, selbst im Paradiese, bemerken, ganz gemeine Gleichnisse nicht. Aber sie werden immer ungemein durch die Klarheit und Schärfe mit welcher sie uns die geschilderte Sache vors Auge stellen. Der alte Schneider, dessen Sehkraft schon geschwächt ist, hält, um einzufädeln, die Nadel nach oben, damit er durch das einfallende Licht das Oehr desto besser erkenne, und lugt scharfblickend hin, um es mit dem Faden zu treffen. Eben so lugen die unter dem Damme im Sande hinlaufenden Sünder durch die düstere Dämmerung nach oben, um die auf dem Damme fortschreitenden Dichter zu erkennen.

30 Brunetto Latini, der Lehrer des Dichters. S. die Einleitung.

37 Wenn hier der Stillstand dadurch bestraft wird, daß die Sodomiter, die im Rennen anhalten, nachher hundert Jahre liegen müssen, wie die Gotteslästerer, und die auf sie fallenden Flammen nicht abwedeln dürfen, so können wir hierin keine moralische Verbindung zwischen Vergeben und Strafe auffinden - denn der Stillstand im Laster muß immer der Rückkehr zur Tugend vorangehen. Vielleicht aber deutet der Dichter auf eine Eigenthümlichkeit des hier bestraften scheußlichen Lasters hin, welches diejenigen, die sich ihm einmal ergeben haben, bis in ihr höchstes Alter festhalten sollen.

55 In der Einleitung ist bemerkt, daß Brunetto aus der Constellation bei des Dichters Geburt ihm Ruhm verkündete.

62 Fiesole lag auf dem Gebirge. Die Einwohner, welche die Ebene am Arno für sich und ihren Handel bequemer fanden, verließen großentheils ihren Wohnsitz und legten einige Stunden davon Florenz an. Bemerkenswerth ist, daß der Geschichtsschreiber Machiavell sich zum Beweise dieser Thatsachen auf den Dichter Dante bezieht.

67 Die Commentatoren erzählen, daß die Florentiner die Stadt Pisa bewahrten, als die Pisaner zur Eroberung der Insel Majorka ausgezogen waren. Diese boten, siegreich zurückgekehrt, den Florentinern, zur Bezeigung ihrer Erkenntlichkeit, von der gemachten Beute ein Geschenk an, und ließen ihnen die Wahl zwischen zweien schön gearbeiteten bronzenen Thüren, die noch den Dom von Pisa schmücken sollen, und zweien Säulen von Porphyr, die durch Feuer verdorben, aber von den Pisanern mit Scharlach bedeckt waren. Die Florentiner wählten, ohne die Decke zu lüften, die letzteren und erhielten davon den Spottnamen die Blinden.

70 Dante schrieb dies nicht prophezeiend im Vorgefühl künftigen Ruhmes, sondern im Bewußtsein des bereits erworbenen. Wie schlecht er von seinen Landsleuten, und zwar von beiden Parteien derselben, denkt, geht aus dieser, wie aus vielen anderen Stellen des Gedichts hervor. Daß er sich von der einen und andern Partei losgemacht, giebt er im Paradies Ges. 17 V. 68 zu erkennen.

99 Im Originale ben ascolta chi la nota. Es wird vorausgesetzt, daß Virgil hier seine eignen Worte im Sinne gehabt, Superanda omnis fortuna ferenda est.

109 Franz von Accorso, ein berühmter Florentiner Rechtsgelehrter.

110  Priscian. Man glaubt, daß Dante hier die Lehrer der Jugend, welche zu jener Zeit dem hier bestraften Laster sehr ergeben gewesen sein sollen, im Allgemeinen habe bezeichnen wollen, weil nicht bekannt ist, daß der berühmte Grammatiker Priscian damit befleckt gewesen ist. Dadurch erscheint die Sittenlosigkeit der Zeit nur in so üblerem Lichte.

112 Andreas Mozzi, Bischof von Florenz, welcher vom Papste nach Vicenza versetzst wurde.

119 Brunetto hat zwei Bücher hinterlassen: il tesoro und il tesoretto. Das letztere ist in Versen geschrieben, welche bis zur Possierlichkeit matt und erbärmlich sind.

124 Er lief so schnell wie der beste Wettläufer.