Uebersicht

Die Hölle.

Eilfter Gesang.

1 Am äußern Saum von einem hohen Strande,
Umkreist von Felsentrümmern ohne Zahl,
Gelangten wir zu einem grausern Lande.
4 Dort bargen wir vor des Gestankes Qual4
Der gräßlich dampft aus jenen tiefen Gründen,
Uns hinter eines hohen Grabes Mal.
7 Wir sahn den Inhalt diese Schrift verkünden: 7
Hier liegt Papst Anastasius, den Photin
Vom rechten Pfad verführt zu Schmach und Sünden.
   
  ...ci racostammo, in dietro, ad un coperchio d'un grand'avello
10 "Wir müssen," sprach er, "langsam abwärts ziehn;
  Erträglicher wird nach und nach den Sinnen
  Der schlechte Dunst, der unerträglich schien."
13 ""So laß uns etwas,"" sprach ich drauf, ""beginnen,
  Das uns die hier verbrachte Zeit ersetzt.""
  "Du siehst," erwiedert' er, "darauf mich sinnen."
16 "Mein Sohn, du wirst in diesen Steinen jetzt," 16
  So fuhr er fort, "drei klein're Kreise zählen,
  Nach Stufen, wie die andern fortgesetzt.
19 Erfüllt sind alle von verdammten Seelen,
  Doch weil du selbst sie sehn wirst, so vernimm,
  Wie und warum sie sich hier unten quälen.
22 Jedwede Bosheit weckt des Himmels Grimm,
  Der Unrecht Zweck ist, denn sie macht es immer
  Durch Trug und durch Gewalt mit Andern schlimm.
25 Doch Trug, des Menschen eigne Sünd', ist schlimmer
  Und die Betrüger bannt des Herrn Geheiß
  Drum tiefer hin, zu schmerzlicherm Gewimmer.
28 Gewaltthat wird bestraft im ersten Kreis,
  Doch, nach dreifacher Gattung von Vergehen,
  In dreien Binnenkreisen stufenweis,
31 An Gott, an sich, am Nächsten kann's geschehen,
  Daß man Gewalt verübt, an Leib und Gut.
  Wie? sollst du jetzt mit klaren Gründen sehen.
34 Gewaltthat an des Nächsten Leib und Blut
  Geschiet durch Todtschlag und durch schlimme Wunden.
  Am Gute durch Verwüstung, Raub und Glut.
37 Todtschläger werden, die, so schwer verwunden,
  Verwüster, Räuber, drum hinabgebannt
  Zur Pein im ersten Binnenkreis gefunden.
40 Gewalt übt man an sich mit eigner Hand,
  Und seinem Gut.  -  Um fruchtlos zu bereuen,
  Sind drum zum zweiten Binnenkreis gesandt,
43 Die selber sich zu tödten sich nicht scheuen;
  Die, so im Spielhaus all' ihr Gut verthan,
  Und dorten weinten, statt sich zu erfreuen.
46 Gewalt auch thut der Mensch der Gotteheit an,
  Im Herzen sie verleugnend, und nicht achtend,
  Was er durch Güte der Natur empfahn.
49 Du wirst, den klein'ren Binnenkreis betrachtend,
  Drum die von Sodom und von Cahors schau'n,  50
  Und Volk im Herzen seinen Gott verachtend.
52 Trug, des Gewissens Qual, ist am Vertrau'n
  Und ist auch oft verübt an Solchen worden,
  Die nicht als Freund auf den Betrüger bau'n.
55 Die letzte Gattung scheint das Band zu morden,
  Das die Natur aus Lieb' um Alle flicht,
  Drum nisten in die zweiten Kreis die Horden
58 Der Heuchler, Schmeichler, die, so falsch Gewicht
  Gebrauchen, Simonisten, Zaubrer, Diebe,
  Und Kuppler und dergleichen Schandgezücht.
61 Zerrissen wird von jedem Trug die Liebe,
  So die Natur macht: die auch, die vermehrt
  Noch Treue fordert aus besonderm Triebe.
64 Drum auf dem Punkte, den das All beschwert,
  Wo Dis den Stand hat, dort, im kleinsten Kreise
  Wird, wer Verrath übt, ewiglich verzehrt."
67 Und ich: ""Du stellst nach deiner klaren Weise
  Wohl abgetheilt den Höllenschlund mir dar
  Und welche Sünder jedes Rund umkreise;
70 Doch sprich: Das Volk, das dort im Sumpfe war,
  Die, so der Wind führt und die Regen schlagen,
  Die mit Geschrei sich stoßen immerdar,
73 Wie kommt's, wenn sie den Zorn des Himmels tragen,
  Daß nicht die Feuerstadt ihr Strafort wird?
  Wenn nicht, was leiden sie doch solche Plagen?""
76 Und Er darauf zu mir: "Was schweift verwirrt
  Dein Geist hier ab von den gewohnten Wegen?
  Wo andershin hat sich dein Sinn verirrt?
79 Willst du nicht deine Sittenlehr' erwägen,  79
  Die Kunde von drei Neigungen verleiht,
  Die Gottes Zorn und seinen Haß erregen,
82 Von Tollwuth, Bosheit, Unenthaltsamkeit?
  Die dritt' ist, da sie minderes Verachten
  Des Herrn verräth, von mindrer Strafbarkeit.
85 Willst du den Spruch bedenken und betrachten,
  Wer jene sind, die vor der Stadt voll Glut,
  Dort oben, ihre Straf' erduldend, schmachten,
88 So wirst du sehn, wie sie von dieser Brut
  Geschieden sind, und minder sie beschwerend
  Auf ihnen das Gericht des Himmels ruht."
91 ""O Sonne, du, die trübste Blicke klärend,
  Wie Wissen, so erfreut der Zweifel mich,
  Vernehm' ich dich ihn lösend, mich belehrend,
94 Drum wend' ein wenig,"" sprach ich, ""rückwärts dich,
  Du sagtest, daß die Wuchrer Gott verletzen,
  Jetzt sage mir, wie lös't dies Räthsel sich?""
97 "Weltweisheit," sprach er, "lehrt in mehrern Sätzen,  97
  Daß nur aus Gottes Geist und Kunst und Kraft
  Natur entstand mit allen ihren Schätzen;
100 Und überdenkst du deine Wissenschaft,
  Von der Natur, so wirst du bald erkennen,
  Daß eure Kunst, mit Allem, was sie schafft,
103 Nur der Natur folgt, wie nach bestem Können
  Der Schüler geht auf seines Meisters Spur;
  Drum ist sie Gottes Enkelin zu nennen.
106 Vergleiche nun mit Kunst und mit Natur
  Die Genesis, wo's also lautet: Leben
  Sollst du im Schweiß des Angesichtes nur.  -
109 Weil Wuchrer nun nach anderm Wege streben,
  Schmähn sie Natur und ihre Folgerin,
  Indem sie andrer Hoffnung sich ergeben.
112 Doch folge mir, denn vorwärts strebt mein Sinn,  112
  Da schon die Fisch' empor am Himmel springen;
  Schon auf den Caurus sinkt der Wagen hin,
115 Und weit ist's noch, eh wir zur Tiefe dringen".

Seitenanfang

Zwölfter Gesang

Erläuterungen:

4  Der Gestank kommt von dem Blutstrome in der ersten Abtheilung des nächsten Kreises, in welchem diejenigen büßen, welche gegen den Nächsten Gewalt verüben.

7  Der Dichter, indem er den Papst Anastasius wegen Ketzerei in die Hölle versetzt, ehrt dennoch seine Würde dadurch, daß er ihn durch ein großes Grabmahl mit darauf befindlicher Inschrift als einen ausgezeichneten Sünder bemerkbar macht.

Von Photin und Anastasius erzählt uns Landino, einer der älteren Ausleger, wörtlich Folgendes: "Photin, ein Geistlicher aus Thessalien, und mit ihm Alcacius, waren Ketzer, und behaupteten, daß der heilige Geist nicht vom Vater ausgehe, und daß der Vater größer als der Sohn sei. Und solche Ketzerei redeten sie auch dem Papst Anastasius ein. Dieser war ein Römer und saß auf dem heiligen Stuhl zur Zeit des Theoderich. Sich offen zu dieser Ketzerei bekennend, und deshalb von vielen Prälaten getadelt, wurde er so verstockt, daß er sie im öffentlichen Consistorio behaupten wollte. Aber es geschah, daß er beim Disputieren von einem Leibesbedürfnisse gezwungen wurde, zu gehen, um sich der Last zu entledigen, wo ihm denn auf einmal alle Eingeweide herausfielen. Und so kam er um!"  - 

16  In diesem Gesange stellt uns der Dichter die moralische Construction der Hölle mit solcher Klarheit dar, daß zum Verständniß keine weitere Erläuterung nothwendig wäre. Da indessen der Leser sie nur nach und nach sich entwickeln sieht, und da von Manchem die Darstellung in Prosa leichter aufgefaßt wird, so geben wir hier eine kurze nach dem Bau der Hölle topographisch geordnete Uebersicht.

Die geringeren Sünden sind diejenigen, welche aus der Unenthaltsamkeit hervorgehen (V. 82 ff.), weil diese nicht den bösen Willen, sondern nur einen Mangel an Selbstbeherrschung und richtiger Erkenntniß voraussetzt. Deshalb werden in dem zweiten, dritten, vierten und fünften Kreise minder hart bestraft die Wollüstigen, die Schwelger, die Geizigen und die Verschwender und die Jähzornigen. Ihnen folgen im sechsten Kreise die Ketzer, bei welchen wohl auch das Vergehnen ohne Bosheit gedacht werden kann. Auf diese erst kommen die wirklich Bösen. Sie sind theils Gewaltthätige, teils Betrüger. Die ersten erscheinen minder strafbar, als die letzten, weil heftige Leidenschaft als Naturfehler beitragen kann, sie zur Gewalt zu verleiten, während der Betrüger bei kaltem Blute die den Menschen vor allen anderen Wesen auszeichnende Gabe der Vernunft mißbraucht, um Andern zu schaden. Daher wird Betrug V. 25 die dem Menschen eigene Sünde genannt.

Die Gewaltthätigen werden im siebenten Kreise bestraft, und zwar in drei Unterabtheilungen, je nachdem der Sünder Gewalt gegen den Nächsten, gegen sich selbst oder gegen Gott verübt hat. Daß die Gewaltthätigkeit gegen sich selbst in einem tiefern Kreise, folglich härter bestraft wird, als die gegen den Nächsten, hat wohl darin seinen Grund, daß der Trieb der Selbsterhaltung der erste und mächtigste Trieb in allen Wesen ist  -  ein Trieb, der das Ganze der lebenden Schöpfung erhält, indem er jedem einzelnen Theil zuvörderst für seine eigene Erhaltung zu sorgen gebietet. Diesem Winke entgegen zu handeln, ist also eine Verletzung des ersten und wichtigsten durch den Instinkt uns ertheilten göttlichen Gebotes.

Der Betrug zerfällt in zwei Hauptgattungen, je nachdem er an Solchen verübt wird, gegen welche wir bloß die allgemeinen menschlichen Pflichten zu erfüllen haben, oder an Solchen, mit welchen wir durch besondere Bande des Vertrauens verknüpft sind.   -  Die erste Hauptgattung enthält die eigentlichen Betrüger, die wir nach zehn Untergattungen in eben so verschiedenen Abtheilungen des achten Kreises bestraft sehen.  -  Die zweite Hauptgattung dagegen umfaßt die Verräther, in vier Abtheilungen des neunten Kreises bestraft, je nachdem sie Verwandte, Vaterland, Freunde oder Wohlthäter verrathen. Im Einzelnen bemerken wir noch Folgendes: (siehe nun Text ab V. 38 ff.)  -  

50  Sodom, bekannt durch das widerliche und ekelhafte Laster, welches von dieser Stadt seinen Namen führt  -  Cahors, zur Zeit des Dichters als ein Nest von Wucherern berüchtigt.

79  Deine Sittenlehre  -  die Ethik des Aristoteles.

97  Dante hat gefragt: Aus welchem Grunde behauptest du, daß die Wucherer Gott Gewalt anthun? Virgil antwortet: Die Genesis, welche durch Gottes Eingebung geschrieben ist, spricht: Du sollst im Schweiße deines Angesichts dein Brod essen. Dasselbe lehrt die Natur, welche gleichsam die Tochter des göttlichen Geistes ist. Menschliche Wissenschaft und Kunst, welche wieder die Tochter der Natur ist, die man daher Gottes Enkelin nennen kann, lehrt folglich dasselbe. Weil nun die Wucherer, statt, dieser Lehre gemäß, ihr Brod im Schweiße des Angesichts zu erwerben, durch hohe Zinsen, und Zinsen von Zinsen ohne Arbeit nicht nur ihr Leben zu erhalten, sondern auch Reichthümer aufzuhäufen suchen, so empören sie sich gegen das Gebot der Gottheit, von welcher Natur und menschliche Wissenschaft herstammen. Hiermit ist auch erläutert, warum das andere V. 50 angedeutete Laster eine Gewaltthat gegen Gott enthält, und wir können es dem Dichter nur Dank wissen, daß er seine schöne Terzinen nicht mit einer nähern Berührung dieses ekelhaften Gegenstandes befleckte. Ueberhaupt haben wir in diesem Gesange zwar wenige poetische Schönheiten, desto mehr aber die Klarheit, Schärfe und den richtigen Takt unsers Dichters in Entwicklung des Abstracten zu bewundern.

112  Dieser Stand der Sternbilder deutet auf das Herannahen des Morgens.